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Sehsüchte 2004: Ist eine Retrospektive das richtige für ein Festival des jungen Films?
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Sehsüchte 2004: Ist eine Retrospektive das richtige für ein Festival des jungen Films? Von Dagmar Schnürer Wie werden die Menschen in vierzig Jahren die Studentenfilme von heute beurteilen? Was uns langweilig und bedeutungslos erscheint, werden sie vielleicht als spannendes Zeitdokument empfinden. Beim diesjährigen Studentenfilmfestival Sehsüchte fand zum ersten Mal in seiner 33-jährigen Geschichte eine Retrospektive statt. Studentenfilme der Filmhochschule Babelsberg (HFF) aus den Jahren 1961 bis 1993 wurden gezeigt. Wie Brandenburgs Kulturministerin Johanna Wanka zur Eröffnung des Festivals bemerkte, ist eine Retrospektive im Rahmen eines studentischen Festivals etwas Ungewöhnliches. Gerade von einem Festival des jungen Films erwartet man keinen Blick zurück, sondern den Blick in die Zukunft. Doch das Potsdamer Studentenfilmfestival hat eine bewegte Geschichte, die von der DDR über die Wendezeit in die BRD reicht, vom Schwarz-Weiß-Film zum Farb- und Animationsfilm. Wäre es nicht spannend, die Gewinnerfilme aus drei Jahrzehnten sehen zu können? Das dachte sich Conni Robe, Studentin der Audiovisuellen Medienwissenschaften an der HFF und eine der zwei Gesamtkoordinatorinnen der diesjährigen Sehsüchte. Weil 2004 das 50-jährige Jubiläum der HFF gefeiert wird, wandelte sich ihre Idee und heraus kam die Retrospektive der HFF-Studentenfilme. Zwar habe sie bei der Durchsicht, zusammen mit den Kommilitonen Ulrike Aigte und Jesko Jockenhövel, auch viel Schlechtes gesehen, bei dem sie sich fragte, wie jemand so etwas nur machen kann, erzählte Conni Robe. Aber es wäre doch schade, wenn die guten und interessanten Filme nie mehr gezeigt würden. „Es ist ein komisches Gefühl, nach vierzig Jahren solch eine bescheidene Arbeit wieder zu sehen“, sagte Karlheinz Mundt im Anschluss an die Staffel „Alltagsbilder“ der Retrospektive im Thalia-Kino. Der 1937 geborene Dokumentarfilmer studierte von 1959 bis 1963 an der HFF. Sein Diplomfilm ist eine Schwarz-Weiß-Dokumentation über Eisenbahner und Eisenbahnerinnen in Halle: „15. 000 Volt“. Damals waren die elektrischen Loks etwas neues und die Kamera folgt dem Kabelgewirr eines Knotenpunktes des Güterzugverkehrs. Die Bilder lassen den Zuschauenden Zeit, in die Stimmung einzutauchen. Nur selten sagt der Erzähler aus dem Off erläuternde Sätze. Die Kamera beobachtet die Handgriffe des alten Lokführers, der seit drei Jahren von seiner Frau begleitet wird. Gemeinsam bedienen sie die Lok, gemeinsam warten sie vor roten Signalen. Draußen in der Nacht ziehen Lichter vorbei, wandern durch die Tropfen auf der Seitenscheibe der Lok und lassen sie zu einem kurzen Funkenregen werden. Die jüngere Lokführerin Edith, eine der wenigen Frauen in diesem Beruf, läuft nach der Arbeit mit einem Hammer um die Lok herum, um hier und da etwas festklopft. Zuhause ist sie Mutter und auf der Lok hält sie den Kopf in den Fahrtwind, während die Bäuerinnen mit den Holzrechen über der Schulter ihr nachschauen. Was durch die fremden Bilder, die zeitliche Ferne, durch Ruhe und Sorgfalt besticht, empfindet Karlheinz Mundt als eher unbedeutend. Er würde lieber auf kritische und technisch raffiniertere Filme zurückblicken können. Die Nachtaufnahmen seien alle nicht so geworden, wie er sie sich ursprünglich vorgestellt habe. Das schlechte Filmmaterial, die schwere unpraktische 35mm-Kamera. Er beneidet die heutigen Studierenden, die Dank neuester Technik alle Freiheiten genießen. Und er bewundert Filme wie zum Beispiel Thomas Heises „Wozu über DIESE Leute einen Film?“ (5. Semester, 1979/80), der bis 1990 verboten war. Ein Dokumentarfilm über zwei kleinkriminelle Jugendliche im Prenzlauer Berg, die freimütig von ihren Delikten und von westlicher Rockmusik erzählen und über die Frage, was für Vorstellungen sie von ihrer Zukunft hätten, nur kichern: „Jar keene, des Leben nehmen, wies kommt.“ „So recht behagt es keiner Festivalleitung, wenn Retrospektiven mehr diskutiert und gelobt werden als das aktuelle Programm“ schrieb Wolfgang Klaue im Rückblick auf seine Tätigkeit beim Staatlichen Filmarchiv der DDR, das damals die Retrospektiven der internationalen Leipziger Dokumentarfilmwoche ausrichtete, wo HFF-Studenten wie Karlheinz Mundt und später Andreas Dresen unvergessliche Eindrücke sammelten. Die gut besuchte Retrospektive der Sehsüchte war auf jeden Fall ein Erlebnis. Eine Zeitreise in eine Welt, wo Studentenfilme noch etwas wollten, brennende Themen berührten oder im engen Rahmen ideologisch erwünschter Diskussionen zu bestehen versuchten. Der ernsthafte Widerstand scheint heute oft zu fehlen. Dafür gebe es jede Menge Angst, meinte ein Kamerastudent der HFF. Angst, im überlaufenen knallharten Filmgeschäft unterzugehen, weshalb die Studierenden vor Experimenten zurückschreckten. Kann der Blick in die Vergangenheit vielleicht zu einem in die Zukunft weisenden Beispiel werden, das anspornt und befreit? Die erste Retrospektive der Sehsüchte wird wahrscheinlich nicht die letzte gewesen sein. Conni Robe hat schon interessierte Nachfolger und in den Archiven warten zahllose Filmrollen, die es wiederzuentdecken gilt.
Dagmar Schnürer
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