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Das Studentenfilmfestival „Sehsüchte“ setzt in diesem Jahr auf das Spiel mit dem Unerwarteten
Stand:
Daniel sagt nicht viel. Er steht nur da und starrt das Mädchen an, dessen Nase er gerade aus Versehen gebrochen hat. Er erinnert sich daran, dass sie einmal zusammen in der Grundschule waren, dass er verliebt in sie war, ihr Süßigkeiten geschenkt hat. Es ist traurig zu sehen, was aus ihm geworden ist, ein Kleinkrimineller und Dealer, einer der vielen arbeitslosen Jugendlichen in Mexicos Ciudad Juarez, ein Verlorener. Man denkt an den kleinen Jungen, der noch unschuldig war, doch nun ist sein Schicksal gesetzt. „Ni-Ni“ heißt Melissa Hickeys (USA) Kurzfilm, der am Freitag (17 Uhr, Rotor-Kino) auf dem Studentenfilmfestival „Sehsüchte“ der Potsdamer Filmhochschule HFF läuft. Mit Ni-Ni wird die verlorene Generation in Mexiko bezeichnet.
Später weiß das Mädchen, wer Daniel ist, ein zartes Band entsteht wieder zwischen ihnen. Doch dann fällt nachts ein Schuss, jemand liegt verblutet am Boden. Es könnte Daniel sein, aber der steht an der Absperrung – vielleicht ist er auch der Mörder. Das Mädchen sieht den Jungen hier zum letzten Mal. Ihre Wege führen einfach nicht zusammen.
Wie auch die Wege von Habib und seinem Sohn in dem niederländischen Dokumentarfilm „Lokroep“ von Reber Dosky (Freitag, 21.30 Uhr, HFF-Kino 1). Habib ist vielleicht Mitte 50, er hat 20 Jahre in Istanbul gelebt, doch dann ist er in sein kurdisches Heimatdorf zurückgekehrt, aus dem er einst vertrieben wurde, hat hier eine neue Familie gegründet. Seine erste Familie ist in der Stadt geblieben. Als sein Sohn zu Besuch kommt, will Habib ihn überreden, zu bleiben, mit ihm Schafe zu hüten und Vögel zu fangen. Doch das will der junge Mann nicht. Und auch in Habibs neuer Familie wollen eigentlich alle in die Stadt. Habib aber will nicht mehr, er steckt seine Familie in einen Käfig, wie die Vögel, die er fängt. Der Film lebt erst einmal von seinen grandiosen Bildern, die endlose Landschaft, die Gesichter, die das Leben in jeder Furche gezeichnet hat, das ist großes Kino für die ganz große Leinwand. Auf der anderen Seite ist da noch der Stadt-Land-Konflikt, die schwelende Unruhe in der Familie, die geradezu greifbar wird. Es geht um Grenzen, die man gerne überwinden würde, aber nicht kann.
Grenzen überschreiten, Distanzen überwinden, Mauern einreißen – der Fokus der „Sehsüchte“ liegt in diesem Jahr auf dem Thema Transit. Das große Entrée der HFF ist als Abflughalle eines Flughafens gestaltet, die Abflugtafel zeigt die nächsten Filme an, die Tickets sehen aus wie Boarding-Karten. Nicht jedes Mal neu erfinden sollen die Studierenden das Festival, das sie seit 43 Jahren selbst organisieren. Vielmehr sollen sie es immer wieder anders machen, so der Medienwissenschaftler Lothar Mikos, der das Festival begleitet, seit es 1995 wieder belebt worden war.
Das mit dem anders machen gelingt diesmal tatsächlich ganz gut. Den im Vorjahr neu besetzten Babelsberger Standort zwischen Studiogelände und HFF hat man zwar nicht mehr gewechselt. Aber die Studierenden spielen ganz offensiv mit Überraschungsmomenten. Etwa bei der Eröffnung am Mittwochabend, als die Moderatorin alle wichtigen Zahlen heruntergerattert hat – 92 Wettbewerbsfilme aus 21 Ländern, 36 Sponsoren, insgesamt 53 660 Euro Preisgelder, 17 Preiskategorien und so weiter. Dann ging sie ins Publikum und fragte ab, wer sich welche Zahl merken konnte. Kaum jemand natürlich. Das macht Spaß, ist locker und amüsant. Wie es auch die launige kleine Podiumsdiskussion zum Start des Festivals war, die HFF-Chefin Susanne Stürmer mit überraschend trockenem Humor und nordischem Understatement moderierte. Das „Sehsüchte“-Thema Transit steht letztlich auch für die Hochschule selbst, für den Schritt, den sie in ihrem 60. Jahr zu gehen wagt: im Juli soll endlich „Richtfest“ für den Übergang zu Deutschlands erster Filmuniversität sein.
Alles anders also bei den „Sehsüchten“ – wie immer eigentlich. Nur dass man nun auch das Spiel mit dem Unerwarteten gelernt hat. Überraschungsmomente sind es dann auch, die den ungarischen Animationsfilm „Symphony No. 42“ von Réka Bucsi so sehenswert machen. Ein Fuchs entdeckt die Weltformel und erschießt sich. Dann passieren so einige merkwürdige Dinge, ein Wolf kotzt Blätter, ein Elefant schreibt ein Hilfegesuch, ein Pinguin singt Opern. Was das alles soll? Den Zuschauer aus seiner routinierten Sicht auf die Welt reißen. So wie die übrigen 91 Wettbewerbsfilme, die bis Sonntag noch zu sehen sind.
Das ganze Programm im Internet:
http://2014.sehsuechte.de
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