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Landeshauptstadt: Verlorene Nachbarn

Was passierte mit dem Ehepaar Back und Paul Wallich? Voltaire-Schüler auf Spurensuche im Landeshauptarchiv

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Im Zalando-Lager kann es nicht viel anders aussehen. Zwischen den hohen Metallwänden der riesigen Rollregalanlage des Magazins stehen verloren die Achtklässler der Voltaire-Gesamtschule. „Etwa 40 Kilometer verschriftlichte Landeskunde, wenn hochkant nebeneinander gelegt, lagern hier“, erklärt Thomas Ulbrich, Archivar im Brandenburgischen Landeshauptarchiv am Rand von Bornim.

Die Schüler sind mit einem Forschungsauftrag hier. Mit der Religionslehrerin Ulrike Boni-Jacobi wollen sie nach biografischen Daten von drei jüdischen Bürgern suchen, die während des Nationalsozialismus aus Potsdam deportiert und anschließend im Lager Theresienstadt ermordet wurden. Einer von ihnen, Paul Wallich, entging dem Schicksal durch Suizid. Zu ihrem Gedenken sollen im Mai Stolpersteine verlegt werden.

Seit drei Jahren gehört die Recherche zur Geschichte Potsdamer Holocaustopfer bis hin zur Kontaktaufnahme mit hinterbliebenen Familienmitgliedern zum Unterricht in der Voltaire-Gesamtschule. Sogar ein reger Schüleraustausch mit einer Schule in Israel ist daraus erwachsen.

Nun sitzen die Jugendlichen im Lesesaal und beginnen wieder einmal bei Null. Nur die Namen der Personen, nach denen sie suchen, sind ihnen bekannt. Monika Nakath, Abteilungsleiterin des Archivs, hat schon etwas Vorarbeit geleistet und einige Akten herausgesucht. Noch einmal Händewaschen, dann darf in den grauen Papieren geblättert werden.

Respektvoll nimmt Peter Bliß die abgehefteten Seiten in die Hand, er hat Angst, etwas einzureißen, und Luna Faber findet, das vergilbte Papier, auf dem akribisch die Vermögensliste des Ehepaars Back abgetippt ist, fühle sich ganz sandig an. Hin und wieder finden sie handschriftliche Eintragungen in altertümlicher Sütterlinschrift – „aber damit kommen wir klar“, sagen Luna und ihre Freundin Marie Schnabel. „Paul Wallich, Geburtsjahr 82 – das ist doch 1882“, vermuten sie ganz richtig, doch wo der zweite Vorname, Israel, plötzlich herkommt, muss Ulrike Boni-Jakobi erklären. „Den Zwangsnamen mussten alle Juden zum Jahreswechsel 1938/39 selbst beantragen. Stellt euch mal vor, ihr würdet plötzlich Marie-Sarah, Peter-Israel heißen“, wendet sie sich an die Kinder. Das hatten sie noch nicht gewusst. Ebenso ist es bei der schwungvollen, handschriftlichen Markierung JS auf den grau-blauen Aktendeckeln. „JS steht für Judensache, erklärt die Lehrerin.

Die „JS“ Ehepaar Julius und Martha Back, geborene Lippmann, wurde von den Nazis genau aufgeschrieben. Dass die Backs aus Potsdam weg mussten, weiß man, weil zumindest Julius Back im Sterbebuch von Theresienstadt und dadurch in Gedenkbüchern auftaucht. Vermutlich sind sie mit dem sogenannten 20. Osttransport mitgefahren, sagt Nakath. Ob das stimmt, soll Peter Bliß überprüfen. Dafür geht er Seite für Seite die Transportlisten durch. Mehrmals. Fährt mit dem Finger über die Spalte mit den Namen derjenigen, die am 3. Oktober 1942 in den sicheren Tod fuhren. Back hat nur vier Buchstaben, das müsste sich schnell finden lassen. Doch Backs sind nicht dabei. „Das ist auch eine Erfahrung im Umgang mit alten Akten, es gibt eine gewisse Fehlerquote“, erklärt die Archivarin. Vermutlich sind sie in letzter Minute als Nachrücker dazugekommen, weil jemand verstorben oder abgehauen ist, und das wurde dann nicht mehr eingetragen“, meint sie.

Aus der Vermögensliste, die alle jüdischen Bürger im Vorfeld der Enteignung aufstellen mussten, ist immerhin der letzte Wohnort der Backs, das jüdische Altersheim in der Bergstraße, bekannt. Dort müsste der Stolperstein seinen Platz bekommen.

Auch Paul Wallich gehört zu den verlorenen Nachbarn. Auf seiner Vermögensliste ist pedantisch der gesamte Hausrat aufgelistet, den die Schüler nun durchgehen: Jeder Suppenlöffel abgezählt, jeder Schmortopf, jedes Unterhemd. Manchmal kommen Fragen: „1/2 Dzd. Damenstrümpfe – das sind sechs, oder? Und was sind Römer“?

Monika Nakath hat bereits im Internet recherchiert, obwohl die Schüler das eigentlich auch selbst herausbekommen hätten, „die sind ja pfiffig“, findet sie. Auf einem Gedenkblatt der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem hat sich der Sohn Kurt Back 1978 mit einer Londoner Adresse eingetragen. „Der sucht offensichtlich Kontakt“, interpretiert Nakath den Fund. Dass die Kinder der Familie Back aus Deutschland ausreisen wollten, sehen Luna und Marie auch in ihrer Akte, da steht noch Shanghai als Reiseziel. „Es ist wie ein großes Puzzle, das am Ende zusammenwächst,“ erklärt Monika Nakath die Arbeitsweise mit Archivmaterial. Die Kinder der Familie Back könnte man jetzt anschreiben, mal sehen, ob die noch leben oder sich Nachfahren melden, sagt sie.

Es muss diese Spannung sein, die die Schüler immer wieder für diese Forschungsarbeit begeistert. Am 17. Dezember nehmen die Schüler in der Villa Schöningen an der Glienicker Brücke an einem Workshop zu Paul Wallich teil, für den der dritte Stolperstein sein soll. Der Bankier lebte bis 1938 in der Villa an der Glienicker Brücke, nach den Novemberpogromen beendete er selbst sein Leben.

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