
© Uni Potsdam/ THW
Homepage: Verwundbarer geworden
Seit 2010 arbeitet das Forschungscluster „Progress“ daran, weltweit sensible Regionen zu überwachen
Stand:
Am 26. Januar 2001 forderte ein Erdbeben der Magnitude 7,7 in der indischen Region Gujarat knapp 20 000 Menschenleben. Niemand hatte die Erdstöße erwartet. Die Region liegt an keiner für Erdbeben bekannten tektonischen Plattengrenzen. Dass es dort ein so starkes Beben geben könnte, ist nach dem heutigen Kenntnisstand äußerst unwahrscheinlich. Dass es doch immer wieder zu sogenannten Intraplattenbeben im Inneren der Kontinente kommt, bereitet den Geoforschern weltweit großes Kopfzerbrechen.
In seismisch aktiven Regionen wie etwa der Türkei oder der Pazifikregion würden sich Großbeben oft in regelmäßigen Abständen und an immer wieder betroffenen Störungssystemen ereignen, erklärt der Geowissenschaftler Professor Manfred Strecker von der Universität Potsdam. Doch inmitten von Kontinentalplatten gebe es wenig Anhaltspunkte für die Gefährdung durch große Erdbeben, da hier Störungszonen und der Grad ihrer Aktivität sowie die möglichen Bodenbeschleunigungen bei Erdbeben oftmals nicht bekannt sind. „Wir wollen die Häufigkeit und den Versatz von Intraplattenbeben verstehen, gefährdete Zonen identifizieren und Versätze der Erdkruste während großer Erdbeben in der Vergangenheit datieren, um eventuell in Zukunft etwas über die Gefährdung einer Region sagen zu können“, erklärt Professor Strecker. Er ist Leiter des Potsdamer Forschungsverbundes „Progress“, für den derzeit ein Projekt zu Intraplattenbeben in Kirgisistan stattfindet. Die Gefährdungs- und Risikoanalyse ist neben der Erfassung und Aufzeichnung von Beobachtungen, dem Informationstransfer und der Prävention ein Themenschwerpunkt von „Progress“, dem Potsdamer Forschungs- und Technologieverbund zu Naturgefahren, Klimawandel und Nachhaltigkeit. Anfang dieser Woche nun fand in Potsdam die Jahrestagung von „Progress“ statt.
Dem 2010 ins Leben gerufenen Forschungscluster geht es vor dem Hintergrund weltweit wachsender Georisiken darum, auf der Grundlage vorhandener Forschungs- und Ausbildungsstrukturen neue Technologien und Werkzeuge für Entscheider zu entwickeln und Geowissen anwendbarer zu machen. Hierzu gehört auch, dass der Verbund nach neuen, kreativen Lösungen sucht, um seine Erkenntnisse besser zu kommunizieren – sei es an die betroffene Bevölkerung oder an politische Entscheidungsträger. An der Universität Potsdam wurde hierfür nun eine eigene, neue Forschungsdisziplin etabliert, die unter dem Begriff „Geogovernance“ Naturwissenschaftler, Politik- und Verwaltungswissenschaftler zusammenführt.
„Mit der neuartigen Verbindung aus wissenschaftlich-technologischer Expertise einerseits und direkter Kommunikation und Beratung andererseits will das Netzwerk helfen, weltweit sensible Regionen besser zu überwachen“, erklärt Strecker. So eine sensible Region ist zum Beispiel auch das Gebiet des Indischen Sommermonsuns. Hier kann Strecker, der das elf Millionen Euro schwere „Progress“-Cluster koordiniert, auf ein Projekt verweisen, dass die Niederschlagsveränderungen in den Himalayaregionen erfasst. Die Frage ist, wie das zerstörerische Hochwasser von 2010 in Pakistan zustande gekommen ist. „Die Region ist ein faszinierendes, aber auch erschreckendes Naturlabor“, so Strecker. Infolge verstärkter Niederschläge sei es im Gebirge zu Muren und Bergstürzen gekommen. „Die Frage ist nun, ob dieses Phänomen durch den globalen Klimawandel nun gehäuft auftritt“, so Strecker. Dazu müsse man auch zurückschauen in die jüngere Erdgeschichte, teilweise bis zu mehreren Tausend Jahren. Zusammen mit aktuellen Wetter-Satellitendaten ließen sich schließlich Rückschlüsse auf die zeitliche Variabilität und Intensität von Starkregenereignissen und deren Konsequenzen, etwa Erdrutsche oder Überflutungen, ziehen.
Charakteristisch für den „Progress“-Verbund („Potsdam Research Cluster for Georisk Analysis, Environmental Change and Sustainability“) ist seine Interdisziplinarität. Unter der Federführung der Universität Potsdam sind neben dem Deutsches GeoForschungsZentrum Potsdam (GFZ), dem Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung (IRS), dem Alfred-Wegener-Institut Potsdam sowie dem Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) unter anderem auch die Filmhochschule HFF und die Softwareingenieure des Hasso-Plattner-Instituts an dem Vorhaben beteiligt. Allein in Potsdam sind an die zehn Institutionen involviert.
Die enge Verflechtung ist Programm: „Unsere konsequente Vernetzung mit den außeruniversitären Forschungseinrichtungen und die internationale Forschungsausrichtung und Kooperation eröffnen auch unseren Studenten und Nachwuchswissenschaftlern einzigartige Einsatzmöglichkeiten und spannende Perspektiven“, so Strecker. Für das Vorhaben wurde auch ordentlich aufgestockt: „Wir haben eine Menge Personal eingebunden“, sagt Strecker. 29 Promovenden sind beteiligt, 19 Wissenschaftlerstellen für bereits Promovierte wurden eingeworben. Jüngste Errungenschaft ist das vor einer Woche eröffnete 3-D-Labor an der Universität, mit dem räumliche Daten aus dem Gelände analysiert werden können. Der Wirkungskreis von „Progress“ geht indes bis an die Grenzen Europas: Für die im Aufbau befindliche Türkisch-Deutsche Universität in Istanbul (TDU) wird ein Masterstudiengang mit dem Schwerpunkt Naturgefahren konzipiert – 2013 soll er starten.
Hintergrund des „Progress“-Ansatzes ist schließlich die Erkenntnis, dass immer mehr Menschen von den Bedrohungen großer Naturkatastrophen – die Forscher sprechen von Georisiken – betroffen sind. Dass es gegenwärtig häufiger zu Naturkatastrophen komme, sei allerdings eine Täuschung, erklärt der Leibniz-Preisträger Strecker. Anhand der historischen Häufigkeit großer Erdbeben kann gezeigt werden, dass dem nicht so ist. Vielmehr liege die wachsende Schadensbilanz daran, dass die menschliche Zivilisation immer weiter in gefährdete Regionen vordringt und damit große Risiken auf sich nimmt. Großstädte und Industrieregionen dehnen sich zunehmend in Gebiete aus, die bislang nicht oder nur kaum besiedelt waren. „Wir sind verwundbarer geworden“, sagt Strecker.
Die Erdbeben in Haiti und Chile vom vergangenen Jahr hätten auch gezeigt, wie wichtig die Prävention ist. Während das stärkere Beben in Chile (Magnitude 8,8) rund 500 Menschenleben forderte, waren es in Haiti bei einer geringeren Stärke (Magnitude 7,0) aufgrund der mangelhaften Infrastruktur, Kommunikationsproblemen und den Eigenschaften des Baugrundes rund 316 000 Opfer gewesen. „Progress“ gehe es darum, solche Extremereignisse zu verstehen, um zu einer Gefährdungsanalyse zu kommen. „Es geht nicht um Vorhersagen oder Vermeidung von Erdbeben, Vulkanausbrüchen oder dem Klimawandel, sondern darum, uns auf die möglichen Gefahren einstellen zu können und zu entscheiden, welches Risiko wir als Gesellschaft eingehen wollen“, erklärt Strecker.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: