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Homepage: „Wie Fresken in einer Kirche“

Semiotik-Expertin Eva Kimminich über Tätowierungen, Graffiti, Flashmobs und pinkelnde Hunde

Stand:

Frau Kimminich, Sie sind Präsidentin der deutschen Gesellschaft für Semiotik, also der Lehre der Zeichensysteme. Gehen Sie mit einem anderen Blick durch die Welt?

Ich war immer schon sehr neugierig. Man sollte mit einem offenen Blick durch die Welt gehen. Das ist unheimlich spannend. Heute Morgen habe ich ein kleines Graffiti an einem Elektrokasten gesehen: das Bild eines pinkelnden Hundes. Ein schönes Beispiel, wie diese Kunst alltägliches Geschehen im städtischen Raum aufgreift. Der Künstler hat miteinbezogen, dass ein Hund dort sein Geschäft machen wird, und so hat sich tatsächlich die reale Lache mit dem Bild vereint. Im Bild war die Fortsetzung der Realität schon angelegt. Diese Art künstlerische Verknüpfung von Bild und Umwelt gab es bereits im 16. Jahrhundert, man nannte sie „Hors d’oeuvre“, also außerhalb des Werkes.

Wie funktioniert das?

Wahrnehmungen im Sinne von Sichtweisen werden auf diese Weise mit Realitäten verbunden, lenken die Aufmerksamkeit des Betrachters, auch wenn es sich bei diesem Graffiti um einen der Unterhaltung der Passanten dienenden Bildkommentar des Künstlers handelt. Es gibt auch zahlreiche Beispiele, dieser Art, die gesellschaftspolitische Probleme am dafür passenden Ort sichtbar machen.

Ich trage eine auffällige Brille, ist das auch schon ein Zeichen?

Natürlich. Sie selbst wählen diese Brille als ein Zeichen für etwas, das zu ihrem Gesicht passt. Das Gesicht ist immer auch Ausdruck der Identität. Jeder hat sein Zeichensystem, mit dem er sich selbst ausdrückt, aber auch Stellung bezieht zu den vorhandenen Zeichen, etwa der Mode.

Ein unbewusster Prozess?

Nicht nur, gerade bei der Mode gibt es heute ja auch eine bewusst gewählte Attitüde. Nehmen sie die Tätowierungen, da steckt oft ein gezieltes Konzept dahinter, etwa bei Ganzkörpertätowierungen. Ein Tätowierter hat einmal gesagt, dass diese Bilder für ihn eine vergleichbare Funktion haben wie Fresken in einer Kirche. In der Kirche würden die Fresken die Religion darstellen, in diesem Sinne betrachte er seinen Körper als seinen eigenen Tempel. Hier wird die eigene innere Bildwelt nach außen gekehrt, der Körper wird zur Bildwand.

Werbebanner, Graffiti, Tätowierungen und Schmuck – unsere Welt steckt voller Zeichen. Wozu brauchen wir sie?

Zeichen sind etwas, ohne die Kultur nicht zu denken wäre. Sie sind die Grundelemente einer jeden Kultur. Ohne sie können wir unsere Umwelt nicht verstehen, ohne sie können wir keine Identität, keine Gemeinschaft und keine Gesellschaft bilden. Mit Zeichen schaffen wir uns einen Zugang zu den Realitäten, ordnen, deuten und regeln sie. Kultur ist eine Art Zwischenzone, über die verschiedene Generationen, Völker und Menschen ihre Beziehung zu ihrer Umwelt und ihren Umgang mit Welt zum Ausdruck bringen und kommunizieren. Durch Weitergabe dieses Zeichengewebes lassen sich diese Beziehungen als Orientierungen und Regelungen einer Gesellschaft absichern oder auch ändern.

Dazu haben wir die Schriftsprache.

Es gibt aber auch andere Zeichensysteme, etwa Graffiti oder Sticker. Diese Form des Zeichengebrauchs versteht sich neben dem künstlerischen Anspruch auch als eine Haltung gegenüber der Gesellschaft. Der öffentliche Raum ist voller Zeichen, die meisten davon regeln das Zusammenleben oder kommen aus der Werbung. Graffiti und Street Art reagieren darauf, indem sie sagen: wir wollen den öffentlichen Raum für uns zurückerobern, er ist für alle da, nicht nur für das Marketing. Hinter den verschiedenen Ausdrucksarten der Street Art steckt auch das Anliegen, dass man sich einbringen will.

Auch das wilde Gärtnern in der Stadt – das sogenannte Guerilla Gardening – zählen Sie dazu.

Diese Form der Zeichensetzung macht deutlich, dass es zu wenig Grün in der Stadt gibt. Einzelne wollen ihr Mitspracherecht geltend machen, ob wieder ein betonierter Parkplatz gebaut wird oder eben ein grüner Park; und sie reagieren darauf, begrünen den Parkplatz mit Samenbomben.

Die Zeichen schaffen also einen Zusammenhang.

Über Zeichen kann jeder sein Verhältnis zu etwas zum Ausdruck bringen. Die urbanen Formen subkultureller Kunst spielen mit Zeichen, die die Gesellschaft vorgibt. Es sind sozusagen Stellungnahmen zu Zeichen, die es bereits gibt.

Ein Beispiel bitte.

Nehmen Sie etwa die Sticker auf der Rückseite von Verkehrsschildern. Diese Schilder geben eine klare Vorgabe, hier darf man nicht hineinfahren oder parken. Wenn man nun einen kleinen Aufkleber anbringt, ist das eine subversive Stellungnahme, eine Reaktion eines lebendigen Individuums auf ein Zeichen, das die Gesellschaft reguliert. Die Rückseiten der Verkehrsschilder sind für die Stickerart eine wichtige museale Fläche. Das wird oft übersehen, es ist aber eine spannende Sache zu beobachten, wie in der Stadt sozusagen eigene Ausstellungsflächen entstehen, die nur bei den Subkulturen selbst bekannt sind. Oder nehmen sie die Strick-Guerilla, ein noch junges Phänomen: Leute, die zuhause etwas gestrickt haben, finden sich zusammen, um dies in der Stadt zu applizieren. So wurde zum Beispiel das Innere eines U-Bahnwagons in Berlin eingestrickt. Ziel solcher Aktionen ist es, städtische Aufenthaltsorte gemütlicher und lebenswerter zu machen, ihnen Wärme zu geben und dadurch die Hektik des Alltags zu unterbrechen.

Ist das ist ein eigenes Genre?

Der Raum Berlin-Potsdam ist wie alle Großstädte voll von solchen Zeichen und Formen des Zeichensetzens. Großstädte bieten zahlreiche Anlässe und Gelegenheiten dafür. Da findet auch eine Kommunikation von verschiedenen Zeichen untereinander statt. Ein Sticker kommt selten alleine. Es gibt einen Austausch; entweder über Bildsymbole oder Worte wird ein Gedanke fortgesetzt kommentiert oder kritisiert.

Zahllose Touristen hinterlassen neuerdings Kaugummis am Berliner Mauermahnmal.

Das ist ein gutes Beispiel. Das ist der Wunsch eine Spur seiner selbst zu hinterlassen. Eine Art individueller Zeichensetzung. Wir haben die unterschiedlichen Formen Zeichen zu setzen für unsere Ausstellung „Stadt und Zeichen“ differenziert, in die Motivation „I was here“ , „I am here“ und „We are here“. Das Kaugummi passt gut zu „I was here“, womit insbesondere die eigene Existenz zum Ausdruck gebracht wird. Auch Graffiti und Tags zählen dazu, an S- oder U-Bahnen angebracht, kann man diese Zeichen seiner selbst in der Stadt sogar über den engeren Aktionsbereich hinaus kreisen lassen. Bei „I am here“ kommt hinzu, dass der Mensch sich selbst zum Zeichen machen kann, etwa über Tattoos Piercing und Mode. Darüber wird er für seine Umwelt lesbar.

Und was verstehen Sie unter „We are here“?

Das sind beispielsweise Straßentheater oder Flashmob. Das sehr junge Phänomen des Flashmob, das Zusammenfinden von sich untereinander fremden Menschen zu Aktionen, vermittelt ein Gefühl der Gemeinschaft. Das kann purer Spaß sein wie bei der Wasserschlacht im Sommer in Berlin. Es kann aber auch politisch-ideologische Inhalte haben. Denn auch der Spaß-Flashmob an sich hat eine sozialkritische Komponente, nämlich einfach mal etwas zu machen, was keinen konkreten Sinn hat, sondern einfach nur Spaß macht. Das unterbricht den Alltagstrott.

Die Semiotik gilt als sehr theoretisch.

Semiotik hört sich schwieriger an als sie eigentlich ist. In dem Begriff steckt das griechische Wort semeion für Kennzeichen. Die Disziplin befasst sich mit Zeichen, Zeichensystem und ihrem Gebrauch, das heißt ihren kommunikativen Möglichkeiten. Beispielsweise wird auch untersucht, wie in der Medizin Zeichen gesetzt werden. Hier ist die Kommunikation mit dem Patienten sehr wichtig. Auch die kaum mehr bewusst wahrgenommenen Piktogramme im Alltagsleben spielen eine Rolle, etwa wenn es darum geht, wie ein Zeichen gestaltet werden muss, um beispielsweise an einem Flughafen allgemein verständlich zu sein.

Man spürt deutlich Ihre Faszination für das Fach.

Mich faszinieren seit jeher die Dinge, die ich um mich herum wahrnehme. Zeichen sind ja schon in der Natur vorhanden, oft sind sie für uns rätselhaft. Wenn man sie genauer anschaut, verschaffen sie manchmal aber auch einen anderen Zugang. So kommt man zu einem Verhältnis zwischen natürlichen und kulturellen Zeichen. Die Welt der Zeichen steht zwischen Natur und Kultur. Heute leben wir immer mehr in der kulturellen Welt der Zeichen und vergessen die Basis.

Die wäre?

Wir haben nur eine Welt. Die Welt der Zeichen potenziert sich heute in den technologischen Medien. Doch das ist nicht mehr die Realität selbst, mit der man umgeht. Man spielt nur noch mit Zeichen des Realen. Man klebt keine Plakate mehr an die Wand, sondern jongliert mit digitalen Zeichen, die man irgendwohin projiziert.

Das Smartphone als omnipotenter Zeichengenerator?

Wir sind in dieser Welt der Zeichen fast schon gefangen. Man muss sich aber nicht unbedingt darin verlieren. Darin steckt auch ein großes Potenzial, wie etwa der Flashmob zeigt. Letztlich bleibt die Basis aber, dass der Mensch aus seinem Körper heraus die Welt wahrnimmt, das ist ein physiologischer Prozess, kein geistiger. Wir nehmen mit unseren Sinnen wahr, danach erst kommen die Konstruktionen des Geistes dazu. Die Gefahr, dass man sich darin verliert, ist natürlich groß, dass man nach einem Ersatz sucht, den es nicht gibt. Das geht hin bis zu Lebensmitteln, die heute zunehmend zu Substituten werden, denken Sie nur an Gen- und Design- oder Brain-Food. Man ernährt sich zunehmend durch Pillen, anstatt sich am Geschmack der Nahrungsmittel zu erfreuen. Hier tritt die reale Welt mittlerweile zunehmend in den Hintergrund und wird durch eine Künstliche ersetzt. Das kann auf Dauer nicht funktionieren.

Das Gespräch führte Jan Kixmüller

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Eva Kimminich ist Professorin für Kulturen romanischer Länder an der Universität Potsdam. Sie hat den 13. internationalen Semiotik-Kongress organisiert, der in diesen Tagen in Potsdam stattfand. Kimminich ist Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Semiotik (DGS).

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