zum Hauptinhalt

Olympische Spiele: Wie Wolfgang Müller aus Potsdam 1968 zu Olympia kam

Wolfgang Müller gehört im Oktober 1968 zur Olympia-Mannschaft der DDR. Es ist der Höhepunkt seiner Sportlerkarriere, auch wenn er in Mexiko keine Medaille gewinnt.

Stand:

Potsdam - In Olympia wird er wohl kaum gedacht haben, als er sich damals die erzgebirgischen Berge hochquälte, der Werkzeugmacher-Lehrling, immer mit dem Fahrrad unterwegs. Wenn es zur Sporthalle in den Nachbarort ging, war eine besonders steile Strecke zu überwinden. „Da wollte ich immer so weit wie möglich hochfahren und nicht absteigen“, sagt Wolfgang Müller. „Das hat mich fit gemacht.“

Es ist dieser Ehrgeiz, der ihn immer weiter treibt, eines Tages bis zu den Olympischen Sommerspielen in Mexiko. 1968 läuft er 400 Meter für die DDR. Für einen Medaillenplatz reicht es nicht, aber es ist ein unglaubliches Erlebnis. Als Wolfgang Müller, der heute 73 Jahre alt ist und in Potsdam wohnt, in seinen Erinnerungen und Souvenirs an jenes verrückte, außergewöhnliche Jahr kramt, wird er wehmütig, fast sentimental. „Dieser erhabene Moment des Einmarsches ins Stadion, die Tauben und Luftballons, und du weißt, die schauen jetzt in aller Welt zu – das vergisst du nie“, sagt er.

Dass er nach Olympia darf, erfährt Müller aus der Zeitung

1968 ist das erste Jahr, in dem die DDR mit einer eigenen Mannschaft anreist. Allerdings noch mit der normalen Deutschlandfahne, darauf olympische Ringe statt Ährenkranz. Wolfgang Müller ist 25 Jahre alt und läuft damals für den Armeesportklub Potsdam am Luftschiffhafen. Bei den Deutschen Meisterschaften im August kann er sich für Olympia qualifizieren, er schafft die 400 Meter in 45,9 Sekunden. „Das war meine Fahrkarte nach Mexiko. “ Dass er im Oktober nach Olympia darf, erfährt er allerdings erst Tage später aus der Zeitung, nachdem die Kader ihre Entscheidung gefällt hatten. War eben damals so, kein Telefon, kein Handy, sagt Müller.

Er hatte lange dafür trainiert. Fast ein ganzes Jahr dauert die Vorbereitung für den möglichen Ernstfall. Ehefrau Gisela ist mit dem zweiten Kind schwanger und meistens allein. Die DDR schickt ihre Läufer in Trainingslager in die Höhenlagen der Sowjetunion. Aber es wird letztlich doch die Höhenlage sein, 2200 Meter über Meeresspiegel, die den ostdeutschen Läufern zu schaffen macht. Medaillen gibt es jedenfalls keine. Müller scheidet nach dem Semifinale aus. Von 70 angetretenen Läufern für 400 Meter, zwei davon aus der DDR, ist er Nummer 15. „In der dreistündigen Pause zwischen den Läufen lag ich irgendwo im Schatten und konnte mich einfach nicht mehr erholen“, sagt Müller. „Die Lust war weg.“ Alles egal, findet er heute. Damals eigentlich auch schon. Hauptsache, man war dabei gewesen.

An Doping dachte er damals nicht

Zum Sport kommt Wolfgang als Lehrling. Seine neuen Freunde aus dem Betrieb sagen, er soll statt diesem Knochenbrecherfußball, wie er es aus dem Heimatdorf kennt, doch mal Leichtathletik probieren. Das findet er gut und möchte mehr. „Es hieß, wenn man zur Armee geht, kann man zur Sportschule.“ Und so meldet er sich freiwillig, wird aber zum Wachdienst in Strausberg eingeteilt. Müller ist enttäuscht. Eines Tages ist er mit seinem Vorgesetzten unterwegs. Und läuft ihm auf der Tour davon. Irgendwann wird der Sportoffizier auf diesen Müller aufmerksam und holt ihn letztlich zum Armeesportklub, dem ASK Vorwärts Potsdam. Jahrelang verlässt er also morgens in Uniform seine kleine Familie, ist tagsüber Leistungssportler. Die Trainingsbedingungen sind gut. Den Trainern vertraut er. Sie sind es, die entdecken, dass die 400 Meter seine Spezialität sind. Die ihm aber auch Vitaminpräparate geben. Oder andere Kräftigungsmittelchen. Die Ampullen liegen offen im Spind. An Doping, sagt er, dachte er damals nicht. Er hatte jedenfalls nie einen Verdacht, es geht ihm bis heute gesundheitlich gut.

In den Jahren vor und nach Mexiko ist Müller in ganz Europa bei Wettkämpfen unterwegs. Republikflucht wäre sicher möglich gewesen, ist aber kein Thema für den Familienvater. „Und natürlich war da überall Stasi“, sagt Müller. Aber seine Akte wollte er nach der Wende nicht lesen. Wollte nicht wissen, welcher Sportskamerad für die Genossen gearbeitet hatte.

Die ostdeutschen Sportler spürten die Verbundenheit 

Bis heute ist Müller vom Sportsgeist, von der Kameradschaft untereinander begeistert. Die Euphorie ist 1968 besonders groß. Das olympische Team wird maßgeschneidert im Schick der 70er eingekleidet, „das war sauteuer“, sagt Müller. Im Olympischen Dorf erleben die Ostdeutschen das Willkommen der großen weiten Welt. Und fühlen sich als Teil der großen Sportlergemeinschaft. Auch ohne Fremdsprachenkenntnisse. Man sieht den anderen beim Training zu und spürt Verbundenheit. Kontakte zu den ganz normalen Mexikanern sind seitens der DDR–Führung unerwünscht. Müller und ein Freund lernen dennoch welche kennen, werden von einer ganz normalen Familie einmal zum Essen eingeladen. „Das war toll.“

Sie bekommen Tickets für einen Stierkampfbesuch, machen einen Ausflug zu den Pyramiden, staunen, dass es so etwas wie Autobahngebühren gibt und im mexikanischen Fernsehen die Spielfilme mit Werbeblöcken unterbrochen werden. Die Sportler bekommen mehrere Hundert Westmark Taschengeld, Wolfgang Müller kann viele Mitbringsel kaufen. Einen goldenen Ring für Ehefrau Gisela, für Frau und Töchterchen bunte Alpaka-Strickjacken; Aztekenkunst, Goldmünzen. Weil der Koffer zu schwer ist, lässt er vor dem Rückflug lieber überflüssige Trainingsklamotten im Hotelzimmer zurück. Alles hat er aufgehoben, die noch nagelneu aussehenden feinen Lederhandschuhe der Olympia-Garderobe und das Stoffschild mit seiner Startnummer. Er besitzt Alben voller Zeitungsausschnitte und Fotos, sämtliche Olympiabücher seit den 1930er-Jahren. Und manchmal bekommt er heute noch oder wieder Autogramm- Anfragen von einer neuen, jungen Sammlergeneration. „Dann suche ich ein altes Foto raus und schicke ihnen das.“

Müller wäre 1972 gern zu den nächsten Olympischen Spielen nach München gefahren. „Aber da reichte die Leistung nicht mehr.“ Er verabschiedete sich vom Leistungssport und wurde Lehrer, erst an der damaligen Schule 19 in Potsdam, heute Rosa-Luxemburg-Schule, dann an Berufsschulen in Teltow und Beelitz. In Mexiko war er nie wieder, warum, kann er auch nicht sagen. Jetzt, inmitten seiner Devotionalien, scheint es plötzlich gar keine so abwegige Idee.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })