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Landeshauptstadt: Zum Frühstück Dosenbier

Früher fand er immer einen Grund, um zu trinken, sagt Uwe Flach, heute ist er trocken. Potsdamer Beratungsstellen helfen Alkoholikern auszusteigen

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Früher fand er immer einen Grund, um zu trinken, sagt Uwe Flach, heute ist er trocken. Potsdamer Beratungsstellen helfen Alkoholikern auszusteigen An diesem Abend wollte er wissen, ob der Absturz wirklich so fern war, wie er glaubte. Uwe Flach drückte die Schwingtür zur Gastwirtschaft nach innen. Stimmen und der Geruch von Bier, Schnaps und warmem Essen schlugen ihm entgegen. Er setzte sich an einen freien Tisch am Fenster, bis seine Beine anfingen auf und ab zu wippen. Er hielt nicht mehr durch, bis die Kellnerin die Karte brachte, sprang vorher auf und stürzte, mehr als er ging, nach draußen. Nachdem er einige Zeit trocken war, hatte er sich beweisen wollen, dass er es in einer Kneipe gut ohne Bier aushält – es hatte nicht geklappt. Die Geschichte kommt Uwe Flach heute weit weg vor. Er sitzt im Gemeinderaum der Kirche am Stern und wartet darauf, dass jemand die Treppe hoch kommt, ein Mann, eine Frau, die, wie er vor langer Zeit, der Flasche Ade sagen will. Mit einem Kollegen vom Blauen Kreuz versucht Uwe Flach, eine Selbsthilfegruppe aufzubauen. „In einer Gegend, die es gut gebrauchen kann“, sagt er. Die beiden bezeichnen sich als „gerettete Alkoholiker“. Seit mehr als zehn Jahren sind sie trocken. Ungefähr genauso lang waren sie alkoholkrank. Er hat auf dem Bau gearbeitet, erzählt Uwe Flach. Er ist um die Vierzig, hat dunkles, kurzes Haar. Die Haut in seinem Gesicht hat große Poren. Zum Frühstück gab es damals Bier und Schnaps. Zuhause ging es weiter mit dem Trinken, wenn seine Frau Ärger machte, wenn er schlecht drauf war. Er hätte immer einen Grund gefunden, um sich aus der Welt zu trinken. Keiner hat ihm geglaubt an diesem einen Morgen. Dass ihm übel wurde, als er die Dose aufzog und ihm der Geruch von Bier in die Nase stieg. Dass er nie wieder einen Schluck Alkohol trinken würde. Zu oft hatte er diesen Satz gesagt. Aber an diesem Tag war es anders. Das Blaue Kreuz Am Babelsberg wohnt Jürgen Schönnagel, der Vorsitzende des Blauen Kreuz, der Suchtkrankenhilfe der Evangelischen Kirche Potsdam. Ein großer, drahtiger Mann öffnet die Tür. Er ist Rentner, seit 25 Jahren dabei, erzählt Schönnagel. Er sei selbst abhängig gewesen, wisse wovon er spricht, wenn die Leute bei ihm anrufen und Hilfe suchen. Die elf Mitarbeiter des Vereins betreuen 80 Frauen und Männer, fast ausschließlich Alkoholkranke. Christen und Nichtchristen. Sie hören zu, beraten am Telefon, leiten Selbsthilfegruppen. Schönnagel sitzt auf der Terrasse mit Blick auf den Swimmingpool. Immer wieder hört er ähnliche Geschichten, sagt er. Frauen rufen an und fragen, was sie machen können, damit ihr Mann weniger trinkt. Und er erklärt ihnen, dass Sucht so nicht funktioniert. Dass Alkoholismus eine Krankheit ist, die man nicht moralisch bewerten kann. Dass man damit nicht ein bisschen, sondern nur ganz aufhören kann. Manchmal besuchen ihn Betroffene und hören sich in dem Wohnzimmer mit den vielen Aquarien seinen Rat zur „Krisenintervention“ an: Rückmeldung geben, Müll nicht wegräumen, reden, drohen sich zu trennen. Wenn alles nichts hilft, gehen. „Wenn Frauen schaffen, das durchzuziehen, kriegen auch die Männer eher die Kurve“, sagt Schönnagel. „Mit dem Trinken hört man auf, wenn das Leid vom Saufen größer ist, als die Freude daran.“ Die AWO-Suchtberatung Der kleine Backsteinbau der AWO liegt versteckt im Hinterhof der Berliner Straße 132. Die Tür steht offen. Ein schmaler Flur. Eine enge Treppe. Dann steht man im niedrigen Büro von Rolf Müller. Der Psychologe nimmt einen Zettel vom Schreibtisch. 2300 bis 2500 Potsdamer sind alkoholabhängig, 4000 sind „Missbräuchler“, liest er ab, dazu kommen „Risikotrinker“, Frauen, die regelmäßig mehr als 20 Gramm – einen halben Liter Bier oder einen Viertel Liter Wein – und Männer die regelmäßig mehr als 30 Gramm reinen Alkohol trinken. In Potsdam sei Alkohol nicht weniger und nicht mehr ein Problem als in anderen Städten auch, sagt er. Kürzlich wurden die Zahlen zu Brandenburg veröffentlicht. 54 000 Brandenburger sind alkoholabhängig, jährlich sterben rund 1300 Menschen an den Folgen von Alkoholismus. Die Menschen, die sich auf die schwarzen Schwingstühle in Müllers Büro setzen, sind im Durchschnitt zwischen 40 und 50 Jahre alt. Sie stecken noch mitten drin in der Sucht, kommen nach dem Entzug oder später, wenn sie es geschafft haben längere Zeit trocken zu bleiben und sich schwach fühlen oder Selbstbestätigung brauchen. Nicht selten hat die Frau oder der Vorgesetzte sie unter Druck gesetzt. Sonst hätten sie den Schritt nicht gewagt. Manchmal sind Angehörige beim ersten Treffen dabei. Ob es Suchtpersönlichkeiten gibt? Müller dreht sich langsam auf seinem Stuhl. „Eigentlich nein“, sagt er. Und doch findet er bei seinen „Klienten“ Gemeinsamkeiten. Wenig Selbstvertrauen, kaum Frustrationstoleranz, soziale Probleme, depressive Stimmungen, Überlastung. „Trotzdem muss mehr dazukommen, damit jemand zur Flasche greift“, sagt er. Ein Mann klopft an die Tür. Der Psychologe bittet ihn, kurz zu warten. Bis sich ein Alkoholkranker seine Sucht eingesteht und Hilfe sucht, vergehen Jahre, weiß Müller. Bis zu zwei Wochen dauert es, bis man bei der AWO einen Termin bekommt, seit die Stadt Anfang des Jahres das Geld für die Beratungsstelle gekürzt hat. Wenn es schneller gehen muss, macht der Psychologe spontane Treffen möglich. Wie bei dem Mann vor der Tür, den er jetzt herein bittet. Auf dem Flur riecht es nach Alkohol. Die Entzugsstation im Klinikum Die Sonne scheint. Patienten sitzen auf der Veranda, trinken Kaffee. Wenn man die Treppe zur Entzugsstation der Bergmann-Klinik hinauf geht, denkt man an diesem hellen Tag eher an Kur als an Entgiftung. In den türkis-weißen, leeren Gängen hängen Fotos aus dem Süden. Stationsarzt Detlef Kliem trägt Jeans und Hemd. „Wir wollen möglichst viel Alltag auf der Station“, sagt er. Nur die ersten Tagen verbringen Patienten im Bett, wenn der Körper vergeblich nach Alkohol verlangt. Sie bekommen Krampfanfälle, schwitzen, haben Albträume, eine gestörte Sinneswahrnehmung. 590 Alkoholiker aus Potsdam und der Umgebung hat die Klinik im letzten Jahr entgiftet, Abbrüche gibt es kaum, eher passiert es, dass Patienten nach einiger Zeit wieder aufgenommen werden. Manche versuchen es zum zehnten oder fünfzehnten Mal, sagt der Stationsarzt. Im Durchschnitt bleiben die Kranken zirka 9,8 Tage. „Viel zu kurz für eine Entwöhnung“, sagt Kliem. Körperlich und psychisch stabil zu werden, braucht mindestens drei Wochen. Aber nur selten bewilligen Krankenkassen längere Aufenthalte. Das Sozialtraining, die Entspannungskurse, das Selbstsicherheitstraining und die Gruppengespräche in der Klinik sind nicht mehr als ein erster Schritt. Die Flasche aus den Gedanken zu verbannen und sich eine lebenswerte Zukunft aufzubauen, das muss draußen passieren. Eine Krankenschwester führt durch das Haus, öffnet die Türen zu den vielleicht 15 Quadratmetern Privatsphäre, die sich zwei Patienten teilen. Holzbetten, bunte Gardinen, ein Tisch, eine Dusche. Die weißen Wände sind kahl, auf einem Kopfkissen liegt ein Kuscheltier. Viele physische Folgen des Trinkens lassen sich rückgängig machen, erklärt der Stationsarzt. Wenn der Alkohol den Organen noch nicht zu sehr zugesetzt hat, können sich schon nach zwei Wochen die Leberwerte erheblich verbessern. Er kennt Patienten, die mit Alkohol am Steuer erwischt wurden und sich mit dem Entzug, und besseren Leberwerten, ihren Führerschein zurückholen wollen. Selbst wenn sich das Kleinhirn zurückgebildet hat und der Patient unter Gleichgewichtsstörungen leidet, kann das nach dem Entzug wieder besser werden. Im fortgeschrittenem Krankheitsstadium empfiehlt der Stationsarzt eine Therapie, am besten eine mehrmonatige Rehabilitation. „Aber die Wege zum Alkohol sind so unterschiedlich, wie die Wege aus der Sucht“, sagt er, „Ein Rezept zum Trockenwerden gibt es nicht.“ Uwe Flach macht es inzwischen nichts mehr aus, wieder in Kneipen zu gehen und kein Bier zu trinken. Aber besonders große Lust dort zu sein, wo getrunken wird, hat er nicht. Ihm sind jetzt andere Dinge wichtig. Sein kleines Enkelkind, Spazierengehen, mit seiner Frau zusammen sein, Reden. Er arbeitet nicht mehr auf dem Bau, sucht nach einem neuen Job. Aber das ist nicht leicht. Überhaupt ist das Leben nicht leichter geworden. Aber besser, sagt er. Heute läuft er am Stern mit Faltblättern vom Blauen Kreuz von Kiosk zu Kiosk, spricht die Leute an, die dort mit Bierdosen und Schnapsflaschen herum stehen. „Das Blaue Kreuz kann helfen“, lädt er sie ein. „Ich habe kein Problem“, antworten die Leute, oft bissig. Sie sind froh, wenn er geht. Uwe Flach macht trotzdem weiter. Er war früher genauso, sagt er. Marion Hartig

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