Von Heidi Jäger: Auf der einen oder anderen Seite
Uraufführung „Alle auf einmal. Auf ein mal alle“ mit Paula E. Paul und Sirko Knüpfer in der fabrik
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Jeder Besucher muss sich positionieren, sich für eine Seite entscheiden. Nimmt er vor der Wand Platz oder hinter ihr. Keiner weiß, was ihn erwartet: weder hüben noch drüben. Die Inszenierung „Alle auf einmal. Auf ein mal alle“ von Paula E. Paul und Sirko Knüpfer spielt mit dem Ungewissen. Und mit der Sehnsucht nach dem anderen, das die Unzufriedenheit mit dem Eigenen schürt. Denn das Gras auf der anderen Seite ist immer grüner, besagt ein altes Sprichwort.
Die Mauer, die in der fabrik aufgebaut ist, besteht nicht aus Beton und Stacheldraht. Der Raum ist durch zwei große Plakataufsteller geteilt, die vor kurzem noch mit Werbung von Parteien beklebt waren. „Diese Fassade, die uns die Politik bietet, ist auch eine Art Mauer“, sagt Paula E. Paul. Zu lesen ist darauf nur noch der Slogan: „Die richtige Wahl“. Eine Behauptung, die die Künstler hinterfragen, ohne eine Antwort zu geben. Vielmehr schauen die beiden einstigen DDR-Bürger, die mit der Wende ihr eigentliches künstlerisches Leben starteten, in die eigenen Biografien.
Die in Potsdam lebende und in Leipzig geborene Tänzerin Paula E. Paul hat dazu eine Schubkarre beladen: mit Schuhen und Kostümen, die sie über die Jahre begleiteten. Eine Art mobiler Rucksack, den man mit sich herumschleppt, aber auf den man auch gern zurückgreift. Paula wird mit diesen „Erinnerungsfetzen“ tanzen. Ebenso wie um den Berg Akten, den sie schnürte und in dem viel Bürokratie und eigene Lebenszeit steckt.
Ihr Tanz ist in Licht getaucht und verursacht Geräusche. Beides bahnt sich seinen Weg auch hinter die „Mauer“, diffus, nicht greifbar und vielleicht gerade deshalb begehrenswert. Von der anderen Seite schwappen ebenfalls Töne herüber und wie die Künstler hoffen, auch so manches Lachen, provoziert von einem Film, den Sirko Knüpfer drehte und der nun im Dunkeln über die fabrik-Leinwand läuft. Zu sehen sind Bewegungen von Menschen, die der 37-jährige gebürtige Zwickauer mit Fotoapparat und Video auf der Straße festhielt. Darin behauptet er den Tanz im Alltag. Das kann ein Händeschütteln sein oder der Zieleinlauf eines Marathonläufers. „In der Vergrößerung wird manches zum Tanz.“
Auch Texte werden eingesprochen, so von Volker Demuth. Er erzählt von einem Kind, das die Arme ausstreckt und zu tanzen beginnt, wenn es einen großen Raum betritt. „Manche tanzen ihr Leben lang weiter, doch die meisten suchen bald den Schutz an der Wand.“ Der Film plädiert fürs Weitergehen, für das Verlassen der Schwelle.
Paula E. Paul war 25, als die Mauer fiel. Sie ist in Leipzig aufgewachsen, wo die Antenne Zuhause gen Osten stand. „Meine Eltern haben an die DDR ehrlich geglaubt, aber auch andere Meinungen gelten lassen.“ Die Tochter ist oft in Opposition gegangen und hat schließlich den Sprung ins kalte Wasser gewagt, als sie 1987 alle Sicherheiten hinter sich ließ. Sie kündigte am Stadttheater Gera, weil sie es dort nicht mehr aushielt und suchte im fernen Berlin ihr Glück. Das Wagnis lohnte sich: sie traf Gleichgesinnte, gehörte zu den Pionieren der Off-Szene. Immer wieder probierte sie das Leben neu, seit 17 Jahren gemeinsam mit Sohn Giacomo. Der Satz, schade oder gut, dass es die DDR nicht mehr gibt, rückt für sie zunehmend in den Hintergrund. „Man hatte damals wie heute schöne und schlechte Momente, unabhängig vom System. Auch heute können uns die Möglichkeiten erschlagen, ebenso wie die Unmöglichkeiten.“
Bei ihrer theatralen und filmischen Erkundung von Mauern geht es den beiden um das Wertschätzen können. Sirko Knüpfer lernte es vor allem im fernen Glasgow, nachdem er noch die Demos und auch die Konflikte um die vormilitärische Ausbildung an der DDR-Schule miterlebt hatte und nach dem Mauerfall an der Burg Giebichenstein studierte. Als er Mitte der 90er aus England wiederkam, war er überrascht, dass sich in Deutschland immer noch alles um den Konflikt Ost und West drehte. Schnell war er wieder mittendrin, diesmal in Karlsruhe, bevor er nach Berlin kam. In dem Theaterstück könnte der Zuschauer die Seite wechseln. Aber vielleicht fühlt er sich auch hier, auf seinem einmal gewählten Platz gefangen. In einem verabredeten Raum ist es nicht so einfach, die Tür zu öffnen. Auch wenn man glaubt, das Gras auf der anderen Seite sei grüner.
Premiere morgen, 12. November, 20 Uhr, fabrik und 13., 14. November, 20 Uhr.
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