Kultur: Bilder der Menschlichkeit
Clemens Kalischers Fotografien aus der Nachkriegszeit im Kunsthaus Potsdam
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Wenn die Aufnahmen großformatiger wären, könnte man sagen, dass das Kunsthaus Potsdam seine Ausweitung auf die Fotografie mit einem Paukenschlag begonnen hat. Das trifft aber für die Arbeiten von Clemens Kalischer, die das Kunsthaus in Kooperation mit der Berliner argus-Galerie realisiert hat, nicht zu, sind sie doch bescheiden, aber ungeheuer beeindruckend zugleich. Die Schwarzweiß-Aufnahmen des 1921 in Lindau am Bodensee geborenen Fotografen sind von einer Eindringlichkeit, die weder moralisch noch wertend ist, sondern präzise und herzlich beobachtend.
Am nachhaltigsten wirken Kalischers „Displaced-Persons“-Fotografien, die das Zentrum der Ausstellung ausmachen. Wahrscheinlich, weil er selbst wie die Flüchtlinge, die 1948 im Hafen von New York anlangten, sechs Jahre zuvor als durch das „Emergency Rescue Committee“ Geretteter dort angekommen war. Zuvor hatte die Familie Kalischer in Berlin gelebt, wo der spätere Fotograf aufwuchs. 1933 musste sie über die Schweiz nach Frankreich emigrieren, aber auch dort hat man ihr Internierungslager und Zwangsarbeit zugemutet.
Clemens Kalischer hatte immerhin das Glück, aus der Barbarei fliehen und ein neues Leben in Amerika aufbauen zu können. Dort studierte der junge Mann Kunst, er lernte zu fotografieren, und ging dann sechs Jahre nach seiner eigenen Ankunft immer, wenn ein Schiff ankam, zum Hafen. Ein älteres Ehepaar schaut mit Skepsis und Angst auf das, was es erwarten möge in der neuen Welt. Die Frau, ihr Gesicht von Zweifel und schlimmen Erfahrungen geprägt, trägt ein schwarzes Kopftuch, der Mann eine Art eckiges Base-Cap. Er legt seinen knochigen linken Arm mit einer beschützenden Geste um ihre Schulter, sein Stock baumelt frei. Mit der anderen Hand deutet er auf eine verheißungsvolle Zukunft, aber der Betrachter zweifelt, ob die Kraft der beiden ausreicht, um noch einmal neu zu beginnen.
Ganz anders die zwei Mädchen, die sich zwischen den Koffern und Truhen im Chaos der Ankunft eine Art Zwischenheim aus Freundschaft geschaffen haben. Sie lächeln sich an, stehen sehr eng beieinander und haben eine leise, fröhliche Ahnung einer unbeschwerteren Zukunft. Fast immer sind es intime Augenblicke, die sich vor die Linse des Fotografen schieben. Erstaunlich, dass sich die vom Schicksal Gezeichneten nicht von ihm aus ihrer Stimmung haben aufschrecken lassen. „Ich sah Angst und Erwartung in den Gesichtern von Männern, Frauen und Kindern, Weil ich dasselbe erlebt hatte“, sagte Kalischer unlängst in einem Interview. „Ich denke, es war die Empathie, die mich dazu befähigte, mich zwischen den Menschen zu bewegen und sie zu fotografieren, ohne sie zu stören.“
Sein fotografischer Blick ist dokumentarisch im besten Sinne. Denn, auch das Ablegen der Fähre nach New Jersey erhält eine menschliche Dimension. Dickbäuchig und langsam bewegt sie sich von dem dunklen, Geborgenheit ausstrahlenden Anlegedock auf eine unsichere Zukunft hin. Nicht alle Flüchtlinge konnten in New York bleiben, das oft nur eine Station auf der langen Fahrt blieb.
Es muss aber weit mehr als die Erfahrung des gleichen Schicksals sein, was Kalischer dazu befähigte, dem Leben Augenblicke abzugewinnen, die, selbst wenn die Menschen alleine sind, große Intensität bergen. Der Junge auf der Treppe fängt mit dem Blitzen seiner Augen den kleinen Hund ein und schafft dadurch eine reiche Gegenwart, obwohl er alles andere als wohlhabend zu sein scheint. Ein anderes Bild zeigt eine elegant schwarz gekleidete junge Frau, die auf ihrem Koffer an der New Yorker Pennsylvania Station sitzt, Schutz suchend legt sie ihren Arm auf das kleine Korbtäschchen auf ihrem Schoß, ihr Blick richtet sich zweifelnd auf den Boden, die Stirn ist gerunzelt und die Hoffnung fast ganz aus ihrem Gesicht geschwunden. „Kommt er noch?“, denkt sich der Betrachter unwillkürlich und hofft für diese schöne Erscheinung, dass sie ihr Glück doch noch finden wird.
Viele Kinderbilder zeigen Hoffnungen, Freude und Verzweiflung der kleinen Seelen, und jedes von Kalischers Fotos, egal ob es eine Architektur- oder Porträtaufnahme ist, steckt mitten in einem Roman. Es sind bewegte und bewegende Aufnahmen, selbst wenn im Zentrum des Blickes körperlose Kleider an einer Stange hängen, die von einem mützenbewehrten jungen Mann geschoben wird, bergen sie eine komplette Geschichte. Das Schöne und wahrscheinlich Wertvollste dieser Fotografien ist, dass der Betrachter auf leise, empathische Art dazu gebracht wird, sich zu jeder Momentaufnahme eine eigene Geschichte zu denken. Der Fotograf lenkt die Aufmerksamkeit auf den Versuch, in der Menschlichkeit zu leben.
Erstaunt ist man zunächst, wenn man das Kunsthaus betritt, weil es mit den kleinen Rahmen und den ausschließlich in schwarzweiß dargebotenen Fotos eine komplett andere Aura erhält. Da, wo bisher bunte zeitgenössische Kunst den Stil bildete, herrscht zurzeit der Respekt vor dem Fotografen, dessen Arbeit klassisch ist. Ein Auftakt, der Maßstäbe setzt.
Bis 21. März, Kunsthaus Potsdam, Ulanenweg 9, Mi-Fr 15-18, Sa/So 12-17 Uhr.
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