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Kultur: Das Fremdeln löst sich auf

Das Buch „Stoffwechsel. Brandenburg und Berlin in Bewegung“ erzählt von Stadtsuchenden und Stadtflüchtigen

Stand:

„In der Provinz ist schon der Regen eine Zerstreuung“, schrieb der Schriftsteller Edmond de Goncourt. Der ist inzwischen über 100 Jahre tot. Aber sicher geben ihm mancherorts noch heute die Leute Recht. Allen voran der Soziologe Ulf Matthiesen, der unter großem Aufschrei das Ausbluten ganzer brandenburgischer Regionen prophezeite. Der gebürtige Hamburger sprach von einer Restbevölkerung, die mit Bier und Hartz IV nur noch passiv vor dem Fernseher hänge. Und vielleicht nicht mal mehr den Regen wahrnimmt.

Das vom Kulturland Brandenburg herausgegebene Buch „Stoffwechsel. Brandenburg und Berlin in Bewegung“ stellt sich der Widersprüchlichkeit und Reibung, aber auch der Umarmung von Metropole und Provinz. Und porträtiert auch Ulf Matthiesen: den Mann hinter den starken Worten.

Dem federführenden Redakteur Uwe Rada gelang eine gute Balance von feuilletonistischen, historischen und analytischen Beiträgen, die die individuelle Handschrift von 19 Autoren sowie spannende fotografische Ein- und Draufblicke von Jürgen Hohmuth miteinander verbindet. Sie erzählen vor allem von Leuten, die an die Peripherie glauben. „Wir sehen hier keinen Niedergang“, sagt Michael Graf von Arnim. „Das Land entwickelt sich weiter, Menschen kommen aus der Stadt, die in dieser Landschaft wohnen und arbeiten wollen. Berlin ist nah, warum sollten wir nicht zu einer Pendelregion werden?“ Er kam Mitte der 90er aus Oldenburg in die Uckermark. Die Alleebäume hingen übervoll mit Äpfeln, die niemand erntete. Die Autos fuhren über wahre Apfelteppiche hinweg. Bis seine Frau, Daisy von Arnim, begann, sie zu mosten. Erst für den Eigenbedarf, inzwischen mit neun Angestellten.

Nicht nur Leute aus dem Westen sahen in den Weiten Brandenburgs nach dem Mauerfall plötzlich neue Chancen. Auch Olivia Schubert, die Volkswirtin und Psychologin, ist eine Enthusiastin, die gegen den Strom schwimmt, und nach ihrem Auszug wieder zurück in die Provinz ging. Für sie gehören Kultur so selbstverständlich zum ländlichen Leben wie Ärzte oder Buslinien. Sie knüpft von Prenzlau aus Netzwerke zwischen den Künstlern in dem dünn besiedelten Land und bringt sie mit Kindern und Jugendlichen zusammen: gegen rechtsradikale Tendenzen. So trafen Schulabbrecher auf einen Holzbildhauer und es entstanden mit entwaffnender Selbstironie „Landeier“: Holzskulpturen, die an den stillgelegten Bahnsteigen stehen und vielleicht darauf warten, dass der richtige Zug irgendwann auch bei ihnen hält.

Auch Henry Bergel ist ein Kind des Ostens, wuchs in Eisenhüttenstadt auf und ging nach dem Mauerfall bis nach New York, um seinen Traum vom Hoteldirektor wahr werden zu lassen. Als das EKO Stahlwerk ihn zurückrief, weil es in dem Oderort Ratzdorf ein Europäisches Begegnungszentrum einrichten wollte, kehrte er prompt heim. Warum? „Ich bin ein DDR-Kind. Nach der Wende hat es mich gestört, dass es mehr und mehr nur noch um“s Geld ging und viele nur noch sich selbst sahen.“

Das Buch bringt viele spannende, kreative Leute zusammen, die an den verschiedenen Ecken Brandenburgs von sich und ihren Projekten Reden machen. „Landeier“ ebenso wie Stadtflüchtige. Denn wie sich Provinz anfühlt, hängt auch von den eigenen Jahren ab. In der Jugend grenzt sie oft ein. Später, mit eigenen Kindern, oder im Alter, suchen viele die Ruhe und vielleicht auch wieder die Nähe zum Nachbarn. Und letztlich ist auch die Standortbestimmung von Provinz und Metropole fließend.

Keimzeit-Sänger Norbert Leisegang, der im Fläming groß geworden ist, sah einst in Potsdam eine Metropole. Inzwischen wohnt er am Wedding und aus diesem Blick ist Potsdam für ihn heute Provinz – was er nicht als Schimpfwort versteht. Noch immer kommt er gern in sein Dorf Lütte, dem Kontrapunkt zur Quirligkeit Berlins. „Vier Familien sind gerade neu hingezogen, für Lütte ist das viel. Aus Berlin kommen sie und aus Westdeutschland.“ Leisegang, der all die kleinen Edelsteine im Lande kennt, glaubt, dass auch immer mehr andere sie entdecken werden.

So wie sich die Dörfer verändern, Künstler, Enthusiasten und Raumpioniere Brücken schlagen zwischen Stadt und Land, wachsen auch neue Metropolen heran. „Keine „Mutterstädte“ im griechischen Sinne des Wortes, aber wohl Orte experimentellen Denkens und Handelns, auf die zu schauen sich lohnt. So löst sich das Fremdeln zwischen Brandenburg und Berlin langsam auf. Aus Stadt und Land wird eine Region“, schreibt Uwe Rada.

Die Gefahr, dass Brandenburg künftig hauptsächlich nur von „arbeitslosen Stadtdeppen ohne Chance auf Paarbeziehungen“ bevölkert sein wird, wie Ulf Matthiesen befürchtet, widerspricht dieses Buch mit freundlicher Vehemenz. Es spiegelt eine Region im Aufbruch – ohne zu verklären und die hohe Arbeitslosigkeit auszublenden. Aber selbst Skeptiker Matthiesen ist dem asketischen Charme der märkischen Kiefern- und Seenlandschaft erlegen.

So deppert muss man also nicht sein, den Reizen der Provinz aufgesessen zu sein. Mit und ohne Regen.

Stoffwechsel. Brandenburg und Berlin in Bewegung, herausgegeben von Kulturland Brandenburg zum Jahr „Provinz und Metropole. Metropole und Provinz“, bei Koehler & Amelang, 16,90 €.

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