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Kultur: Dem Zufall auf die Sprünge helfen

Ute Seidel widmet sich der Encaustic und schrieb darüber ein Büchlein: Diese alte Malweise ist ihr Therapie und Spiegel – sie zeigt es in der Bibliothek

Stand:

„Encaustic-Kunst ist eine Therapie und ein Spiegel ... Einige lieben sie, andere finden sie frustrierend.“ Michael Bossom ist einer von denen, die sie lieben. Wie auch Ute Seidel. Und so stellte die Potsdamerin ihrem kleinen Büchlein „Streifzug durch die Geschichte der Encaustic“ die Worte des Wiederentdeckers Bossom voran. Denn sie sprechen ihr aus der Seele. Die Kulturwissenschaftlerin hat diese alte, weithin vergessene Malweise vor acht Jahren für sich entdeckt. Auch als Therapie, um sich von der Krankheit weg zu malen oder ihr ein Gesicht zu geben.

Die ehemalige Buchhändlerin musste sehr früh lernen, mit Einschränkungen zu leben. Schon als Kind lag sie mehrfach wegen Rheumafieber im Krankenhaus. Als junge Frau konfrontierte man sie dann mit der erschreckenden Diagnose einer angeborenen, unheilbaren Lebergefäßanomalie. „Diese Krankheit führt zu einer sehr schnellen Ermüdung.“ Im Buchhandel fühlte sie sich nach ihrer Lehre mit der Krankheit oft als fünftes Rad am Wagen, ohne Perspektive. Sie ging zur Schlösserstiftung, übernahm Führungen im Neuen Palais. Schließlich nahm sie beherzt das Studium der Kulturwissenschaften in Meißen auf. Ihre Abschlussarbeit schrieb sie in der Charité zu Ende. Dann die schockierende Mitteilung der Ärzte: Invalidisierung.

6,5 Stunden die Woche darf sie derzeit arbeiten. Und die absolviert sie im „Haus der Begegnung" am Teufelssee, das sich auch um Menschen mit Behinderungen kümmert. Ute Seidel liegen vor allem die Kinder am Herzen, vielleicht auch, weil sie selber keine haben darf. „Wenn die Kinder zu mir sagen: ,Frau Seidel, das war toll bei dir'', ist das für mich der schönste Dank.“

Immer wieder zeigt sie ihnen die Technik der Encaustic, die sie selbst inzwischen auch als Kursleiterin weiter vermittelt. „Eine Malweise mit vielen Facetten. Man kann im kleinen Format arbeiten und kommt schnell zum Erfolg. Dadurch ist sie auch im therapeutischen Bereich gut einsetzbar. Und gefällt einem ein Bild gar nicht, geht man einfach wieder mit dem Maleisen drüber.“

Ute Seidel stellt derzeit ihre Arbeiten im Treppenhaus der Stadt- und Landesbibliothek aus: Blütenzauber, Lebensfeuer, Hoffnung ... Arbeiten von sehr unterschiedlicher Wirkung und für sie auch das Spiegelbild ihrer Seele.

Encaustic heißt so viel wie Einbrennen, Erhitzen. Eine Malerei, die fast so alt ist wie die Höhlenmalerei. „Und doch gibt es nur wenig Material darüber.“ Das stachelte Ute Seidel dazu an, selbst fündig zu werden. Zwei Jahre stöberte sie in Bibliotheken herum. Ihr kleiner „Streifzug“ erzählt, wie früher das Bienenwachs über Kohlebecken erhitzt und mit Asche, Pflanzen und anderen Zutaten eingefärbt wurde. „Zum Teil war das sehr gesundheitsschädigend. Die Bilder waren aber haltbarer als die in Öl. Davon zeugen auch die wenigen, heute noch existierenden Mumienporträts.“ Und auch vor Ort in Potsdam wurde sie Encaustic-fündig: Im Marmorpalais gibt es eine Deckelvase mit dieser Malerei und im Jaspissaal in den Neuen Kammern ein Deckengemälde. Berühmte Maler wie Leonardo da Vici, Paul Klee oder Pablo Picasso probierten sie aus und auch Diego Rivera experimentierte mit dem heißen Wachs. Goethe cancelte sie wiederum als „gewisse Halbkunst“ und „Modebeschäftigung“ ab.

Das kann den wahren Encausticern aber nicht den Spaß nehmen. „Ich schöpfe Kraft aus dieser Malerei, gerade im Winter und in schwierigen Lebenssituationen. Sie ermöglicht es, Gefühle herauszulassen.“ Aber es ist auch die Technik, die die am Kiewitt lebende Hobbymalerin immer wieder herausfordert und die sie so gut wie möglich auch an andere weiter vermitteln möchte. Erstaunt war sie, mit wie viel Begeisterung beispielsweise verhaltensauffällige Schüler der Potsdamer Fröbel-Schule zum Malbügeleisen und zum Pen, dem erhitzbaren Drahtstift, griffen. Und auch wie Kinder in der Rheumakurklinik in Belzig über ihre Schmerzen hinweg malten. „Die Kinder sind in ihrer Auffassungsgabe sehr unterschiedlich. Wichtig ist vor allem, dass sie ihre Fantasie und ihre Feinmotorik schulen. Und wenn sie etwas Eigenes schaffen, vermittelt das Selbstvertrauen."

Wie auch ihr selbst. Mit Akribie trägt Ute Seidel die Farben auf die Bügeleisenfläche, wischt übers Blatt, tupft, ritzt ... Vieles resultiert aus dem Zufall, „aber man kann dem Zufall auch auf die Sprünge helfen.“ Und daran feilt sie mit großer Hingabe – wenn die Müdigkeit sie nicht zu sehr in ihren Fängen hält. Über ihrer Couch hängt ein Bild von Thomas Kahlau. „Der Fußmaler ist für mich Vorbild. Er hat so viel Energie und gibt sie durch seine Bilder an andere Menschen weiter.“ Auch sie bezieht Energie aus der Malerei, aus der Encaustic: „Sie ist ein Geschenk für jeden, der gut mit ihr umgehen kann“, sagt Michael Bossom. Und auch da spricht er Ute Seidel aus dem Herzen.

Ihre Bilder sind bis Ende Juni in der Stadt- und Landesbibliothek zu sehen.

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