Kultur: Die Spinnradphilosophin
Zu Gast in Potsdam: Tara Gandhi, Enkelin des berühmten Freiheitskämpfers, spricht über ihr Leben
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Zu Gast in Potsdam: Tara Gandhi, Enkelin des berühmten Freiheitskämpfers, spricht über ihr Leben Rote Chilibohnen, Tara Gandhi Bhattachjree liebt rote Chilibohnen. Ein ganzes Glas mit der scharfen Frucht hat der Kellner gerade für die Enkelin Mahatma Gandhis organisiert. Als Fleischersatz, scherzt sie und lacht, sie ist Vegetarierin. Doch sie rührt das Glas nicht an. Wahrscheinlich ist es unhöflich, während eines Interviews zu essen. Wartend steht es vor ihr auf dem Tisch. Wir sitzen auf der Terrasse der Alten Meierei am Heiligen See. Die Sonne scheint, Tara Gandhi strahlt wie der rosaorangene Punkt zwischen ihren Augen. Sie trägt ein langes Gewand, ein Dhoti, wie es in Indien Tradition ist, ihr Haar ist graumeliert, die großen Augen blicken neugierig durch die noch größere Sonnenbrille. Sie ist auf Einladung Jann Jakobs in Potsdam und freut sich an der Schönheit der Stadt. Seit einer Woche besucht sie mit ihrer Freundin, der indischen Schriftstellerin und Unesco-Beraterin Anees Jung, Brandenburg. In der Galerie „Sonnensegel“ spricht sie mit Jugendlichen über ihre Hobbys und ihr Leben, über Indien, Gandhi und seine Frau. Sie war sehr stark und unterstützte ihn bei seiner Suche nach Gerechtigkeit. Tara Gandhi ist wichtig, dass auch Kasturba Gandhi in der Geschichte ihren Platz hat. Sie freut sich über das Interesse der jungen Menschen. Sie haben es nicht leicht, sagt sie. Sie werden von einer Sache in die nächste gedrängt, ohne das ihnen Zeit zum Nachdenken bleibt. Ich bin nicht wichtig, es ist Gandhi, um den es geht, sagt sie und lässt sich dann doch überreden, aus ihrem Leben zu erzählen. 14 Jahre war sie alt, als er von einem fundamentalistischem Hindu erschossen wurde. Die Enkeltochter kann sich gut an den Großvater erinnern. Sie besuchte ihn im Gefängnis, holte ihn vom Bahnhof ab, wenn er von seinen Reisen zurück kam und verbrachte mit ihm die Ferien. Er war ein gerechter Großvater, kein Enkelkind, das er liebevoller behandelte hätte als die anderen. Er fragte nach den Hausaufgaben, wie es in der Schule steht und was sie an der Universität lernen. Und er war ein großer Unterhaltungskünstler, oft brachte er sie zum Lachen. Jeden Brief, den sie an ihn schrieb, hat er beantwortet. Seine moralischen Werte lernte sie quasi nebenbei, mit den kleinen und großen Dingen, die ihr die Familie vorlebte. Und heute macht die Enkelin dort weiter, wo Gandhi begonnen hat. Sie leitet die Stiftung „Grandmothers Foundation“ für in Not geratene, arbeitslose, verstoßene Frauen und Mädchen. Sie setzt sich dafür ein, das Inder am heimischen Spinnrad Stoffe produzieren, um wirtschaftlich unabhängiger zu werden, so wie es der Großvater schon in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts gemacht hat. Die wirtschaftliche Lage in Indien ist schlecht. „Indien braucht keine Massenprodukte, sondern Massen die Produkte herstellen“, sagt sie einen ihrer politischen Sätze, die sie immer wieder in das Gespräch einflicht. Sie ist überzeugt, dass Gandhi heute aktuell wie nie ist, in Indien wie überall auf der Welt. Gleich ob man über Wissenschaft, Umwelt, Globalisierung und Weltfrieden spreche, man komme nicht an Gandhi vorbei. Weder politisch noch spirituell. Die jüngsten Anschläge in Bombay. Es gibt Terror auf der ganzen Welt, sagt sie. Sie greift auf eine grundsätzliche Theorie zurück. Angst und Misstrauen verbindet die Menschen, sagt sie. Sie sind die Basis für menschliches Handeln. Ihr Gesicht verdunkelt sich. Sie redet lieber über die schönen Seiten des Lebens, über Liebe, Menschlichkeit und Freundschaft, mit der die Angst überwunden werden kann. Über die Verantwortung, die jeder für sein Leben trägt, mit Richtlinien, an die er sich hält, weil er an sie glaubt und nicht weil jemand ihm sagt, was richtig oder falsch ist oder ihn kontrolliert. Und sie redet gerne über Indien. Menschen in ihrer Heimat haben häufiger die Gelegenheit glücklich zu sein, als Deutsche, glaubt Tara Gandhi. Wenn das Wasser aus der Wasserleitung fließt zum Beispiel, wenn sich der Strom anschalten lässt. In Deutschland funktioniert alles. Es gibt keine existentiellen Herausforderungen. Trotzdem hat hier jeder seine Probleme, nur auf einer anderen Ebene, sagt die Enkelin. Und letzten Endes sehnt sich jeder nach Liebe, gleich unter welchen Bedingungen er lebt. Sie selbst scheint sich oft zu freuen, auch in Deutschland. Über die Speisekarte in der Alten Meierei, die vegetarische Gerichte anbietet und über die ihr entgegengebrachte Gastfreundschaft. Vielleicht ist Glücksempfinden auch eine Frage der Persönlichkeit. Jeder spinnt sein eigenes Glück. Sie will die Menschen dazu bewegen, Gandhi zu suchen, sagt sie. Auch sie selbst hat ihn noch nicht gefunden. Aber sie ist sicher, das Gandhi finden, die eigene Wahrheit finden heißt. Das Chilibohnenglas bleibt bis zum Schluss verschlossen. Marion Hartig
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