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Kultur: Die Wirklichkeit war differenzierter

Vom Völkermord an den Juden in DDR-Schulbüchern: Matthias Krauß stellte sein neues Buch vor

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Der Roman „Wie der Stahl gehärtet wurde“ gehörte zur Schullektüre in der DDR, was noch nicht sehr viel darüber sagt, ob und wie intensiv er gelesen wurde. Gerade das nicht zu lesen, was die Schule vorschreibt, gehörte zu den harmlosen, weil ungefährlichen Akten oppositionellen Verhaltens. Diese Leseverweigerung des Vorgeschriebenen kann jedoch eine Langzeitwirkung haben.

Dem Potsdamer Journalisten Matthias Krauß fiel die Gewissheit auf, mit der Erwachsene, die in der DDR zur Schule gingen, heute behaupten, im Unterricht nie etwas vom Holocaust gehört zu haben, auch jüdische Autoren wären nie behandelt worden. Nun gehört Matthias Krauß, der 1960 geboren wurde und in Hennigsdorf zur Schule ging, zu den Menschen, die nie den Keller ihrer Eltern entrümpeln und die alten Schulhefte endlich wegschmeißen. Er hat sie alle noch – und verglich die allgemeine Gewissheit, die DDR hätte vom Judenmord geschwiegen, mit seinen Schulaufzeichnungen. Er fand seine frühen Vorbilder, Egon Erwin Kisch und Heinrich Heine, die beide mit spitzer Feder und persönlichem Engagement als Journalisten schrieben. Und er erinnerte sich an seine Leseeindrücke von Isaak Babels „Reiterarmee“ und Friedrich Wolfs „Professor Mamlock“, an die dort geschilderten Judenpogrome in Russland und die rechtliche Ausgrenzung und Demütigung von Juden im Nationalsozialismus.

Als Journalist machte sich Krauß ans Recherchieren, fand heraus, dass es seit 1952 einen für die gesamte DDR verbindlichen Einheitslehrplan gab. Er prüfte alle Lehrbücher von der 6. bis zur 12. Klasse und die dazu herausgegebenen pädagogischen Materialien – und verglich beides mit seinen Aufzeichnungen. Entstanden ist daraus ein Buch: „Völkermord statt Holocaust. Jude und Judenbild im Literaturunterricht der DDR“, das am Dienstag im Pub à la Pub vorgestellt wurde.

Als erster Leser und Kritiker des noch druckfrischen Buches zeigte sich der in der Bundesrepublik aufgewachsene Generalstaatsanwalt Erardo C. Rautenberg überrascht. Von den im Buch vorgestellten Texten, u.a. von Bruno Apitz, Becher, Becker, Feuchtwanger, Seghers, Arnold Zweig, kannte er nur Lessings „Nathan der Weise“, die Vielfalt und Differenziertheit der Texte würden die sich etablierenden Vorurteile, die DDR sei antisemitisch gewesen und habe die NS-Zeit nie aufgearbeitet, widerlegen. Ihm als Wessi sei einmal mehr ein Klischee über die Ossis abhanden gekommen.

Angeregt durch das Buch, verglich er die Lesebiografie von Krauß mit seiner eigenen, erinnerte sich an seine alten, damals noch im Dienst befindlichen Nazilehrer und daran, wie die heute gern übel beleumundeten 68er gegen das Verschweigen der Schuld, das die Demokratie der Bundesrepublik zu schädigen begann, auf die Barrikaden oder die Sitzreihen der Hörsäle stiegen. Für die aktuellen innerdeutschen Diskussionen wäre es aufschlussreich, wenn ein ähnliches Buch über die Schullektüre in der Bundesrepublik geschrieben würde.

Im Studentenclub, der an diesem Nachmittag überwiegend von Nichtstudenten besucht war, wurden Gründe für das Entstehen der Wahrnehmung, die DDR habe Jüdisches nie thematisiert, gesucht. Die Tatsache, dass der erst seit 1979 in Westdeutschland sich einbürgernde Begriff Holocaust in der DDR vermieden wurde, würde heute im Kurzschluss als Verschweigen begriffen. Ein anderes Phänomen ist die Nichtthematisierung der jüdischen Herkunft von Remigranten, die als Kommunisten in die DDR kamen und sowohl die politische Sphäre wie die kulturelle maßgeblich mitbestimmten. Doch warum, so Rautenberg, hätten sie etwas thematisieren sollen, was für sie selbst als Atheisten keinerlei Bedeutung hatte. Die Nichtanerkennung des Staates Israel mag der wichtigste Grund für die Meinung sein, die DDR sei in ihrer Ideologie schon antisemitisch gewesen. Die Wirklichkeit war dann doch viel differenzierter.

Um sich ein Urteil zu bilden, kann es hilfreich sein, in den unausgepackten Kisten der Kindheit zu stöbern oder nachträglich die Leseverweigerung aufzugeben und einfach nachzulesen, was wirklich in der DDR gedruckt wurde, sogar in Schulbüchern. Lene Zade

Matthias Krauß: Völkermord statt Holocaust. Jude und Judenbild im Literaturunterricht der DDR, Anderbeck Verlag, 14,80 Euro

Lene Zade

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