zum Hauptinhalt

Kultur: Die Zeit läuft

Unidram begann im „Delirium“ des „Plasma-Projekt 6“ aus der Schweiz

Stand:

Vier Gestalten hängen schlaff am Tresen. Die Uhr läuft – doch sie scheinen außerhalb der Zeit. Noch ist die Flasche fast gefüllt. Schließlich kommt Bewegung in die müden „Krieger“. Noch ein Schnaps, noch eine Zigarette ... Nachhallende Geräusche vom Anzünden des Feuerzeugs, vom Abstellen des Glases. Wie in einer Endlosschleife. Jeder hängt seinen eigenen Gedanken nach. Nur der Ort verbindet, die Bar als Tröster in der Einsamkeit. Die Gestalten saugen an der Nacht, wie die Biene am Nektar.

Der Zuschauer bleibt bei dieser Unidram-Auftakt-Inszenierung der Schweizer Theatergruppe „Plasma-Projekt 6“ entfernter Beobachter dieser tranceartigen Rituale im „Delirium“. Doch die Bewegungen werden flüssiger, die Musik auf der Hammondorgel treibt an, auch der elektronische Sound gibt einen Rhythmus vor, der die Distanz allmählich auflöst und den Zuschauer hinein zieht. „Es ist Zeit. Wir sind spät dran. Ich bin jetzt weg“, sagt einer der Männer und greift zum Mantel – um ihn wieder anzuhängen. „Bleiben wir noch ein Weilchen.“

Die wenigen Wortfetzen der Schauspieler treffen auf wissenschaftliche Abhandlungen über die Zeit, die vom Off eingespielt werden. Ein Kauderwelsch, das über die Köpfe der Menschen hinweg fegt. Hier – an diesem Ort der Einsamkeit – sind andere Worte von Bedeutung. Sie schmecken nach Melancholie und nach der Angst, aus der Zeit zu verschwinden. „Wir verenden permanent, da muss doch einer von sich selbst aus tätig werden.“ Worte ohne Folgen. Nur im Delirium gibt es Bewegung. Einer der Männer streichelt genüsslich seinen Bauch, beginnt einen Strip, den dicken Wanst dabei einziehend, vorstreckend – unter dem Schleier der Nacht seine Fantasien zulassend. Bis ihm die Zigarette aus dem Mund fällt, die Realität ihn wieder einholt. „Wir müssen aus der Bedeutungslosigkeit heraustreten, man muss endlich auf sich aufmerksam machen, einen Nobelpreis bekommen oder Kinder ... etwas von anhaltendem Wert.“ Beschwörungsformeln, die ungehört verhallen.

Auch eine der beiden Frauen formuliert ihre Gedanken: „Der Mut zum ersten Wort ist notwendig, aber man muss genau überlegen, ob man jemanden ansprechen soll. Es könnte ein Kind draus entstehen, ganze Familien, immer mehr ... Und jetzt sind es schon sechs Milliarden“. Schließlich wiegt sie sich in den Armen einer der Männer und tanzt mit ihm den Tango der Vergänglichkeit. Doch das Paar wird wie von Stromstößen elektrisiert. Sie tanzen schneller und schneller, brechen zusammen: überfordert von dieser Nähe, von diesem Druck. Schließlich fallen die Männer übereinander, aufgestaute Emotionen wallen auf. Für einen kurzen Moment. Es folgt pikierte Ernüchterung, erneutes Einigeln.

Die Inszenierung bewegt sich zwischen Stagnation und Stakkato. Sie verplempert keine Zeit, hat in einer guten Stunde auf den Punkt gebracht, welches Geistes Kind diese anonymen Typen sind – die ein Stück weit in jedem schlummern. Die Angst vor Nähe, das Nicht -Wahrgenommen-Werden, ungestillte Sehnsüchte – die Figuren bekommen holzschnittartig Gesichter, die Botschaft ist klar. Nimm das Leben in die Hand, lass die Zeit nicht ungenutzt verstreichen. Die Uhr tickt. Nein, sie läuft – digital gesteuert – lautlos.

Der Barkeeper verwandelt sich in einen Dinosaurier, der ausgestorbenen Spezies. Auch wir zum Sterben verurteilt. Antriebslosigkeit, Selbstzerfleischung, Isolation, Kommunikationsstörung sind ein schneller Weg in die Auflösung.

Ein Vulkanausbruch, ein Weltenbrand müsste kommen und aus der Asche Phönix empor steigen: Der Dickbäuchige wünscht sich die Ursuppe zurück, und möchte darin als Amöbe schwimmen. Alles von vorne beginnen.

Während dessen läuft eine letzte Melodie, die letzten Sekunden werden gezählt. Wie Silvester – aber es knallt kein Korken. Alles wird dunkel. Und morgen? Sicher werden wieder welche an der Bar sitzen – und warten. „Und der Zeitpunkt unseres Ablebens bewegt sich unaufhaltsam Richtung Jetzt. Das können wir nicht anhalten.“

Die entrückte und zugleich zupackende Inszenierung von Lukas Bangerter ist dicht gewebt, lebt von präzise geführten Schauspielern im Dialog mit der Musik und lässt auch berührende Momente entstehen. Man fühlt die Zeit unter den Nägeln brennen. Ein spannungsreicher Auftakt, der die Zuschauer mit inhaltliche und formale Perspektivwechsel konfrontierte, wie Kultur-Staatssekretär Johann Komusiewicz zuvor das Anliegen von Unidram treffend charakterisierte. Oft ist es das Ungesagte, das im Zuschauer weiter arbeitet. „Delirium“ traf damit offensichtlich den Nerv des begeistert applaudierenden Publikums.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })