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Kultur: Doppelte Karriere – zweierlei Leben?

„Die dritte Front“ – ein Buch zur Ausstellung des Brandenburgischen Literaturbüros

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„Die dritte Front“ – ein Buch zur Ausstellung des Brandenburgischen Literaturbüros Von Gerold Paul „Was in den Bibliotheken des Landes während der Jahre von 1930 bis 1950 geschieht, findet seine Entsprechung auf allen anderen Gebieten des literarischen Lebens", schreibt Peter Walther programmatisch im Vorwort einer bemerkenswerten Neuerscheinung aus dem Lukas Verlag, die auf Initiative des Brandenburgischen Literaturbüros Potsdam und der Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv zustandegekommen ist. Anhand von Personen, Organisationen und Einrichtungen skizzieren darin acht Autoren die Literatur- und Verlagsgeschichte der „Provinz“ im genannten Zeitraum nach. Berlin bleibt außen vor. Ein Begleitband „Die dritte Front“ versteht sich, zu bescheiden, als Begleitband einer gleichnamigen Wander-Ausstellung, die im Rheinsberger Kurt Tucholsky Literaturmuseum zu sehen ist. Anfang September kommt sie nach Potsdam, später wird auch Finsterwalde sie sehen. Der Subtitel „Literatur in Brandenburg" ist etwas irritierend, schließt er doch neben schöngeistigen Veröffentlichungen auch wissenschaftliche und publizistische Leistungen ein, zum Beispiel das von den Nazis und der DDR geförderte „Brandenburg-Berlinische Wörterbuch“, an dem Anneliese Bretschneider (1898-1984) von 1939 bis 1959 aktiv mitarbeitete. Seit 1932 „aus Liebe und Begeisterung für den Nationalsozialismus“ Mitglied der NSDAP, gelang der Germanistin eine zweite Karriere in der Akademie der Wissenschaften/Ost und an der Brandenburgischen Landeshochschule Potsdam, wo sie auch Vorlesungen hielt. Gerd Simon schrieb über sie. Doppelkarrieren dieser und ähnlicher Art, dazu Denkwürdigkeiten wie die spannende Geschichte von Wiepersdorf ab 1945, subsummiert Herausgeber Peter Walther unter dem kaum schlüssigen Kürzel „dritte Front“, einem Zitat aus dem gleichnamigen Buch (1940) von Herbert Scurla (1905-1981), darin jener „die geistig-moralischen Kräfte des Volkes“ in Zeiten des totalen Krieges den militärisch-politischen und ökonomischen gleichsetzt. Nicht alle Beiträge tragen dieses etwas dünne Gerüst, am ehesten der von Frank Kallensee über den späteren Mitbegründer des Bezirksschriftstellerverbandes Cottbus und Buchautors Scurla, der seine politische und publizistische Tätigkeit vor 1945 („keine Zeile geschrieben“) erfolgreich verschwieg. Als man dennoch erfuhr, wie national und sozialistisch er als Oberregierungsrat, im Reichswissenschaftsministerium, beim damaligen DAAD und an der Propaganda-Front tätig war, durfte er in der DDR weiterhin publizieren. Im Allgemeinen halten sich die Autoren, mit Wertungen zurück. Jürgen Israel freilich, über die Sachsenhausener Erfolgsschriftstellerin Marie Diers (1867-1949) berichtend, meint am Ende seines Essays, die alte Dame hätte gewiß auch wohlwollend über die Bodenreform geschrieben; Kai-Uwe Scholz unterstellt dem „Konjunkturliteraten“ Bernhard Kellermann (1879 -1951), in seinem 1913 erschienenen Buch „Der Tunnel“ (Hitler las es begeistert) einen „geldgeilen Juden“ ganz im Sinne der Nazis dargestellt zu haben. Mit Hilfe der Sowjets startete auch er noch einmal kräftig durch. „Eilig“ bot er ihnen seine Dienste an, sie revanchierten sich mit einem BMW, gutem Wohnen, neuen Ämtern. Jede Zeit braucht kluge Leute. Ein Radio-Pionier Die „geistig-moralische Front“ bei den zahlreichen Potsdamer Buchverlagen schildert Wolfgang Tripmacker eher sachlich. Hierher gehört auch Hermann Kasack - Immigrant und Schriftsteller wie Kellermann - der unter den Nazis lediglich Sendeverbot erhielt und dann die Zweigstelle des Suhrkamp Verlages in Potsdam führte. Ingrid Pietrzynski widmet dem Radio-Pionier einen tadellosen Essay. Vergleiche zwischen dem „Haus der deutschen Frontdichter“ 1938 im heute polnischen Buderose (Jörg Plath) und dem Wiepersdorfer Schriftstellerheim 1946 (Jürgen Stich) drängen sich bei der Lektüre des gut recherchierten Bandes („mehr als eine Fallstudie“) genauso auf wie beim zweifachen Kehraus deutscher Bibliotheken 1933 und nach 1945. Aber Distanz bringt nicht immer Frucht - fraglich, ob der bequeme Antifaschismus der Autoren den Personen dieses Paperback und ihrer Zeit immer gerecht wird. Krieg ist Ausnahmezustand, Patriotismus erst heute kein Thema, und ohne die geistig-moralische Einheit ihrer „dritten Front“ hätten die Alliierten den Krieg nimmer gewonnen. Das verwendete Kürzel Gefügigmachen oder Isolation" und der stumme Vorwurf an die „Wendehälse“ von NSDAP und SED vergessen, dass jedes „System“ intelligente Köpfe sucht und findet. Auch heute. Wer würfe den ersten Stein? Ab und an muss der Mensch einfach gewendet werden, sonst wird aus ihm nichts. Die Zeit tut es ja auch. „Die dritte Front. Literatur in Brandenburg 1930 - 1950“, Hrg. Peter Walther, Lukas Verlag 2004, 140 Seiten

Gerold Paul

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