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Kultur: Ein biographischer Missbrauch Ruth Berlau

im Borderline-Express

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Stellen Sie sich vor, lieber Leser, liebe Leserin, Sie sind tot. Nun schon seit zweiunddreißig Jahren. Sie hatten ein interessantes, aber auch schweres Leben, das niemand außer Ihnen selbst beurteilen kann. Nun wollte es das Schicksal, dass Sie als experimentier- und lebenshungrige, schöne junge Frau in Dänemark arbeiten. Sie sind verheiratet, 1906 geboren, Sie hören von der russischen Revolution, die Sie begeistert, Sie wollen mehr erleben, mehr sehen von der Welt. Sie treffen Bert Brecht. Da sind Sie schon Schauspielerin, Sie haben zum Teil erfundene Reisereportagen geschrieben und arbeiten an einem Roman, Sie sind Regisseurin eines damals sehr revolutionären Arbeitertheaters, und das Leben nimmt mit der Liebe seinen Lauf.

Ruth Berlau ist diese Dänin, die später mit Brecht und Helene Weigel nach Amerika gehen wird, freilich wird Berlau in New York leben und die Brecht-Familie in Kalifornien, aber die Beziehung bleibt weiter bestehen. Sie versuchen, wenn Sie Ruth Berlau sind, den weltberühmten Dramatiker ganz für sich zu gewinnen, da fechten Sie Kämpfe, die manchmal auch eine pikante Note haben, Sie versuchen, weiterhin eigenständig zu leben, schließlich war Ihnen ja mal die Traktorfahrerin in Russland ein Vorbild und die Gedanken der Emanzipation haben den einfachen Hausfrauenweg zunichte gemacht. Sie probieren sich in unterschiedlichen Rollen aus: Sie schreiben, Sie arbeiten mit Ihrem Geliebten an Dramen und Novellen und dokumentieren die Arbeit des überaus Geschätzten. Der so solidarisch ist mit seinen anderen Frauen, dass für Sie nicht allzu viel Zeit bleibt. Sie akzeptieren, schließlich sind Sie keine Spießerin, Sie versuchen, sich mit Ihrer Geliebten-Rolle abzufinden, Sie intrigieren vielleicht manchmal, aber meist sind Sie doch weit entfernt von demjenigen, den Sie ganz dringend benötigen.

Zum Beispiel dann, wenn Sie merken, dass Sie schwanger sind von ihm, dem Großen, vor allem dann, wenn man Ihnen eröffnet, dass Sie auch noch eine Geschwulst in der Gebärmutter haben, die im schlimmsten Fall beiden, im eingetretenen Fall „nur“ das Leben des Kindes kostet. Michel nannten Sie das nur einen Tag lebendige kleine Bündel, das nicht Sie, sondern das der Mann begutachten konnte, der sich nicht als Vater eintragen ließ in die Besucherliste des Krankenhauses. Sie haben schon immer viel getrunken, das leugnen Sie nicht, Sie waren schon immer launisch, das gehört zu Ihrer Natur. Und Sie kommen von ihm nicht los, vielleicht probieren Sie es gar nicht, Sie gehen sogar mit in die DDR. Dass Sie dann dort einmal im BE erscheinen, unter dem Pelzmantel nichts als Ihre nackte Haut, die Sie mit dem Spruch „Ich habe doch einen viel schöneren Hintern als Helene“ allen, die es sehen wollen, zeigen. Auch das hilft Ihnen nicht, Sie geben auf. Irgendwann. Sie resignieren. Aber Sie überleben ihn um achtzehn Jahre. Dann sterben Sie, wie kurz zuvor Ingeborg Bachmann, wegen einer brennenden Zigarette. Anstelle dass man Sie dann in Ruhe lässt, wird Ihr Leben interpretiert. Und im Jahr 2006, zu Ihrem 100. Geburtstag, erscheint eine Biographie einer gewissen Sabine Kebir. In einem Verlag, der in Algerien sitzt. Seltsam. Und Sabine Kebir, eine habilitierte Literaturwissenschaftlerin, geriert sich als Psychologin. Sie hat als einzige erkannt, dass Sie schon seit Ihrer Kindheit, wahrscheinlich „aufgrund sexuellen Missbrauchs“, aber auch möglicherweise in Kombination mit „genetischen Erbteilen“, an Borderline litten. Ihr gesamtes Leben war durch diese Krankheit gekennzeichnet, sagt sie, und der arme Brecht hat das nicht erkannt. Immer wollte er helfen und hat nicht bemerkt, dass er als Geliebter nicht auch noch Psychologe sein konnte. Wie gütig er war, stellt sie auch dar, und dass Sie immer nur ihr launisches Wesen in den Vordergrund stellten, weiß sie ganz genau. Sie weiß auch, dass Sie an ungeheurer Konzentrationsschwäche litten und dass Sie ohne den großen Brecht überhaupt gar nichts auf die Reihe bekommen hätten in Ihrem Leben. Sie weiß auch, dass Helene Weigel überaus großzügig mit Ihnen war und Sie (das Hausverbot im BE wurde nicht erwähnt) selbstlos durchgefüttert hat. Und sie weiß noch viel mehr, aber das wollen wir Ihnen ersparen. Am Freitagabend in der Stadt- und Landesbibliothek wollten zum Glück noch nicht einmal zwanzig Leute hören, was Sabine Kebir alles über Ruth Berlau weiß. Eine Frau war von den Worten so hingerissen, dass sie laut schnarchte. Gott – oder der Schlaf – mögen uns vor selbsternannten Biographen schützen.

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