Kultur: Ein Jahrhundert erlebt
Paul Yogi Mayer als Zeitzeuge in der Stadt- und Landesbibliothek
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Hitler ist dicht an ihm vorübergegangen, mit Goebbels hat er einen Logenplatz im Theater getauscht – „und keiner hat gerochen, dass ich ein Jude bin!“ Anlässlich des weltweit begangenen „Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus und des Holocaustes“ am 27. Januar präsentierten die Stadt- und Landesbibliothek sowie die Journalistin und Autorin Pieke Biermann am Donnerstag ein neues Buch des Verlages Berlin-Brandenburg, das es anderswo bereits seit zehn Jahren gibt.
Keinem geringerem als Paul Yogi Mayer, „Zeitzeuge“ und Ehrendoktor der Universität Potsdam, ist es gelungen, den Verlag zu überzeugen, die englischsprachige Originalfassung auch dem deutschen Leser zugänglich zu machen.
„Sie waren die Boys“ erzählt in authentischen Lebensberichten von 732 KZ-Häftlingen jugendlichen Alters, die nach dem Krieg in Britannien „resozialisiert“, also wieder in normale Lebensbahnen gebracht werden sollten. Wie der Churchill-Biograph Sir Martin Gilbert das umfangreiche Material zusammenstellte, so hatte der 96-jährige Paul Yogi Mayer als Sportlehrer an diesem „Aufbauprogramm“ ganz persönlichen Anteil.
Er hat das 20. Jahrhundert tatsächlich „erlebt“, da reichten 90 Minuten nicht aus, auch nur jedes Lebensjahr vor der zahlreichen Zuhörerschaft einigermaßen auszuleuchten, aber es gibt ja mehrere Bücher von ihm – die meisten über den Sport.
Warum „Yogi“, blieb sein Geheimnis, sonst aber erfuhr man, dass er 1912 in Bad Kreuznach geboren, in Wiesbaden das Abitur gemacht und in Berlin Sport studierte. Nachdem er als Sportpädagoge und Journalist (bis 1935 im „Reichsbund jüdischer Frontkämpfer“) tätig war, wanderte er mit seiner Familie kurz nach der „Reichskristallnacht“ 1938 ganz legal gen England aus, wobei die Nazis ihn alle „Mitbringsel“ doppelt bezahlen ließen. Was er im Dritten Reich unter dem Namen „Kindertransporte“ selbst noch erlebte – die Aussiedlung von genau zehntausend deutschen und tschechischen Kindern jüdischer Abstammung nach England – sollte dem Emigranten („Geld war da, wir kamen nur nicht ran“) auf der Insel wiederbegegnen. Zuvor jedoch nahm er als „feindlicher Ausländer“ der Royal Forces am Krieg gegen Deutschland teil. Nach 1945 erklärte sich die britische Regierung bereit, Kinder aus KZ´s und Ghettos bis 16 Jahre nach Art der „Kindertransporte“ (99 Prozent waren polnischer Abkunft) aufzunehmen.
Paul Yogi Mayer fragte nicht nach ihrer Vergangenheit, er arbeitete, damit diese Kriegswaisen wieder festen Boden unter die Füße bekämen, Anerkennung, durch sportliche Erfolge zum Beispiel. Wer wollte schon „wertlos“ sein! Das Verdikt vom „Untermenschen“ hatte eine ganze Generation traumatisiert, bis heute. „Wir Juden wollen Menschen sein, wie andere Menschen auch“, sagte der Brite mit deutscher Zunge. Obwohl die meisten der 732 längst „flügge“ gewordenen Jugendlichen ihre Eltern niemals wiedersahen und viele England verließen, glaubt er dennoch, es letztlich geschafft zu haben. Aus ihren Berichten an die eigenen Nachkommen entstand ja Sir Gilberts Buch.
Aber über dieses Thema wurde gar nicht so sehr viel gesprochen, das Publikum „quetschte“ den Yogi selbst gehörig aus. Er stand auf, ging zu den Fragern, antwortete. Immer wieder seine jüdische Identität betonend, erzählte er einfach, viel über die Olympiade, wo er als Jude ohne Probleme Karten kaufen konnte, wie er Flüchtlingen nach Südamerika einen Bärendienst erwies oder über das anhaltende „Schuldbewusstsein, überlebt zu haben“. Welche Rolle die Religion in seinem Leben spielte? Er wich salomonisch aus: „Religion ist ein Teil der Gemeinschaftlichkeit. Im Notfall brauchen wir sie alle, ob politisch oder religiös, ist dabei gar nicht so wichtig“ - und beschloss den neunzigminütigen Abend mit Weisheit: „Ich hoffe, Sie haben eine Gemeinschaft, in der Sie zu Hause sind!“
Martin Gilbert, „Sie waren die Boys - die Geschichte von 732 jungen Holocaust-Überlebenden“, Verlag für Berlin-Brandenburg, 2008
Gerold Paul
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