Kultur: Es ist vollbracht
Die Fotografin Monika Schulz-Fieguth begleitete Peter Herrmann ein Dreivierteljahr auf seinem Weg der Krankheit bis in den Tod
Stand:
Sie liegen eng aneinandergeschmiegt, wirken auf den ersten Blick entspannt und zufrieden. Schützend umfasst die Frau den schmalen Körper des Mannes. Wie ein Kreuz überschneiden sich die Arme der Liebenden. Doch in den ruhigen und gelassenen Gesichtszügen der Frau haben sich auch Spuren der Anstrengung und des Leids eingegraben. Ihre Lippen sind zusammengepresst, ihre Haut ist grau und fahl. Es ist der Moment des endgültigen Abschieds. Der Mann ist tot. Sanft wird er von seiner Frau hinüberbegleitet in diese unbekannte Welt. Noch will sie ihn nicht freigeben für diese letzte Reise, auf die er ohne sie geht.
Monika Schulz-Fieguth hat dieses Bild der Sterbestunde von Peter Herrmann „Pieta“ benannt: nach dem Schmerzensbild von Maria und ihrem toten Sohn Jesus Christus. Entstanden ist die Aufnahme am 4. Oktober 2009 gegen 1 Uhr morgens. Es überrascht das flammende Rot dieser Todesnacht, das fast kitschig wirkt und herauszufallen scheint aus dem Gesamtwerk der Potsdamer Fotografin, deren Bildnisse sich zumeist in zurückhaltender Farbigkeit offenbaren. Auch Monika Schulz-Fieguth ist erstaunt und zugleich unsicher, ob dieses Rot und dieses Gelb wirklich das einfangen, was dem schmerzvollen und zugleich erlösenden Abschied gerecht wird.
Monika Schulz-Fieguth setzt sich an den Computer in ihrem Arbeitszimmer und schaut, wie das Bild in Schwarz-Weiß oder in einem abgedunkelten bräunlichen Rot wirkt. Nein, dieses nachträgliche Abschwächen ist nicht stimmig. Es ist genau diese Intensität, diese Strahlkraft, die die im Schein der vielen Kerzen verschwommene Nacht widerspiegelt. Eine glutvolle Wärme und Liebe, bedeckt mit Mohnblumen auf der Bettwäsche, die Peter Herrmann gerade am Ende seiner Krebskrankheit bevorzugt über sich ausbreitete.
Die Fotografin erinnert sich an diesen Augenblick des Todes, als sei er gestern gewesen: „Diese intime Stille war entrückt und ergreifend, aber sie hatte nichts Beängstigendes. So eine unglaubliche Geborgenheit habe ich nie zuvor erlebt.“ Erst als sie durch die Nacht nach Hause fuhr, kamen auf einmal Ängste in ihr hoch. Der Wind pfiff, ihr Mann war verreist, die Wohnung so leer. Sie rief ihre Tochter an, und die nahm wenig später die Mutter in den Arm.
Als Monika Schulz-Fieguth die „Pieta“ als Hommage an den späten Freund Peter Herrmann im Dezember 2012 erstmals öffentlich zeigte, gab es überraschend wenig Resonanz auf dieses Zwiegespräch mit dem Tod. Das Bild ging angesichts der Fülle der ausstellenden Künstler und des Vernissage-Gedränges mit Sekt und Smalltalk fast unter. Jetzt, vom Kunsthaus in der Ulanenstraße auf die Staffelei im Arbeitszimmer der Fotografin zurückgekehrt, wirkt es in seiner Plastizität geradezu raumgreifend. Die Sonnenstrahlen dringen durchs Dachfenster und tauchen die „Pieta“ in ein glanzvoll wärmendes Licht. Das Foto zeigt ohne Pathos ein Paar in intimer Nähe und Vertrautheit, ganz in sich versunken. Es erzählt in schlichter Eindringlichkeit von menschlicher Würde und vom Vergehen. Unaufgeregt und doch aufwühlend in seiner Hingabe. Da gibt es nichts Ausgestelltes, keinen falschen Ton. Hier begreift der Betrachter das Beispielhafte dieses Moments, von dem das Kunstwerk erzählt: Diese „Pieta“, die für Monika Schulz-Fieguth das Gehaltenwerden und Mitleiden symbolisiert.
44 Jahre wurde Peter Herrmann. Als er Heiligabend 2008 von seiner Krankheit erfuhr, lag gerade die Organisation der Ausstellung „Auslöser Potsdam“, für die der Museologe am Potsdam Museum 100 Jahre Potsdamer Fotogeschichte zusammengetragen hatte, hinter ihm. Zu dieser Ausstellung kam er auch immer wieder mit Monika Schulz-Fieguth ins Gespräch und ihr gemeinsames Interesse für die Fotografie, die ähnliche Sicht auf die große Kraft der Lichtbilder führte zu diesem Vertrauensbeweis, zu dieser so unglaublichen Bitte. Peter Herrmann bat Ende Januar 2009 Monika Schulz-Fieguth, ihn zu begleiten in seiner Krankheit. Natürlich hatte er die Hoffnung, zeigen zu können, wie er sie besiegt. Nur manchmal, aber das war viel später, geriet diese unerschütterliche Zuversicht ins Wanken. Doch die Fototermine wurden fortgesetzt, egal, wie er sich fühlte. Er wollte es so. Auch im Krankenhaus, als er gegen die Auswirkungen der Chemotherapie ankämpfte. Sie sprachen wenig über die Krankheit und fast nie über den Tod. Dafür über den Wert der Familie und über die Freundschaft. Und natürlich über die Kinder, über die beiden kleinen von Peter Herrmann und die zwei erwachsenen von Monika Schulz-Fieguth.
Aber vor allem sprachen sie über die Fotografie und auch über die große Ausstellung von Annie Leibovitz im Frühjahr 2009 im Berliner Postfuhramt, die Peter Herrmann besucht hatte und die ihn so beeindruckte. Auch dort waren Fotos über das Sterben zu sehen: Die amerikanische Fotografin hatte ihre Lebensgefährtin Susan Sonntag mit der Kamera bis in den Tod begleitet. Den Bildband über diese Ausstellung bekam Monika Schulz-Fieguth zu ihrem Geburtstag im November 2009 geschenkt. Da war Peter Herrmann schon einen Monat tot. Aber das Buch trug seine Widmung, nun überreicht von Peter Herrmanns Witwe Jeannette. Es enthält auch diesen Satz von Annie Leibovitz, den die Amerikanerin wie einen Schutzmantel über ihre Serie zum Sterben legte: „Der Umstand, dass es aus einem Moment der Trauer entstand, gab dem Werk seine Würde.“
Es brauchte eine lange Zeit, bis Monika Schulz-Fieguth mit der Bearbeitung dieser Porträtserie über Peter Herrmann beginnen konnte. Das erste entwickelte Bild, die neben dem Kaminfeuer auf der Staffelei postierte „Pieta“ in einer Größe von 50 mal 80 Zentimetern, scheint wie ein Versprechen, weiterzumachen: wie ein Leitfaden, der zurückführt und in diesem Jahr aufgerollt werden soll. Vielleicht steht am Ende eine Ausstellung, auf jeden Fall aber ein Fotobuch.
Eine erste Anfrage an das Potsdam Museum, dort, wo Peter Herrmann über 20 Jahre gearbeitet hat und als Hüter und Entdecker der Potsdam-Fotografie die Stadtgeschichte bewahren half, traf vorerst auf Zurückhaltung. In knapp zwei Jahren wird Monika Schulz-Fieguth 65 Jahre. Vielleicht gibt es ja da eine Ausstellung, in die sie das Thema mit hineinnehmen kann. „Möglicherweise ist es zu schwer, um es allein zu zeigen.“ Sie drängt nicht auf eine öffentliche Präsentation. „Manche Dinge brauchen Zeit. Und die haben wir. Es gibt ja keine Eile.“
Monika Schulz-Fieguth nimmt sich ihre Zeit. Auch in der Arbeit. Es ist dieser genaue, den entscheidenden Moment abwartende Blick, der in ihren Langzeitstudien zu einer nachhaltigen Vereinnahmung führt. Die Fotografin überzeugt immer wieder mit Büchern und Ausstellungen über Menschen mit Behinderungen, über kranke und am Rande der Gesellschaft stehende Menschen.
Peter Herrmann, dem uneitlen Mann, der so gern lachte, ging es ganz sicher nicht nur um sich selbst und um seine Familie, als er sich der Kamera stellte. Er sah die dokumentarische Kraft der Fotografie, die das Unsagbare auszusprechen vermag. Und er wusste, dass nur wenige Menschen dazu bereit sind, auch ihre Schwäche und ihren körperlichen Verfall preiszugeben. Er tat es und wird damit selbst Teil der Potsdamer Fotografiegeschichte. „Vielleicht hatte er den Gedanken, etwas zu bewahren. Ob es nun so ausgeht oder so“, sagt Monika Schulz-Fieguth.
Dieser unerschrocken gegen den Krebs ankämpfende Mann mit dem immer hohlwangiger werdenden Gesicht und den herausstechenden braunen Augen zeigt vor der Kamera ohne Scheu seinen abgemagerten nackten Oberkörper. Man sieht auf einem der vielen noch unbearbeiteten Fotos den eingelassenen Port auf der Brust, in dem die Medizin gegen den Krebs hineingetröpfelt wurde und auch die lila auf die Haut gezeichneten Markierungen, auf der die Bestrahlung erfolgte. Und unweigerlich kommen die Tränen beim Betrachten, weil man um das Ende weiß. Beide haben sich ungeniert aufeinander eingelassen: die Fotografin und ihr Auftraggeber. „Wir hatten kein Schamgefühl. Es gab ein völliges Vertrauen. Er hat sich in meine Hände begeben und ich mich in seine.“
Manchmal fiel es ihr auch schwer zu fotografieren, vor allem wenn sie seine Schwäche bemerkte. Und natürlich ging dieser langsame Abschied nicht emotionslos an ihr vorbei. „Wenn ich allein war, drückte sich die Trauer ein.“ Ihre Familie und Freunde sorgten sich, dass sie sich mit dieser Aufgabe übernehmen könnte. „Aber diese Frage stand für mich nicht, auch wenn die Arbeit Spuren hinterlassen hat und ich viele Dinge heute nicht mehr so locker nehme. Die Erlebnisse des Lebens formen dich.“
Immer wieder war sie überrascht, wie sich Peter Herrmann motivierte und sich nie aufgab. Ein Foto zeigt ihn ausgelassen in seinem Garten tollen: zu seinem 44. Geburtstag mit dem wohl engsten Freund, dem Potsdamer Grafiker Peter Rogge. Am Ende dieser unbeschwerten Stunden verabschiedete Peter Herrmann die Gäste am Gartenzaun. Er beugte sich lächelnd über die Hausnummer 13. „Meine Glückszahl“, wie er sagte. Und MonikaSchulz-Fieguth dachte: „Hoffentlich“ und wusste nicht, ob sie ihn das nächste Mal wieder an der Pforte stehen sehen wird.
Sie blättert sich am Computer zurück durch die Fotos und die Monate. Lange Zeit hat sie es nicht geschafft, sich diesen Bildern und Erinnerungen erneut auszusetzen. Jetzt ist sie erstaunt über manche Blickwinkel, die ihr auf einmal viel bewusster werden. Wie dem, als Peter Herrmann an dem Baumstamm mit der schroffen Rinde lehnt. Fast winzig. Dieser Baum scheint zu zeigen, dass die Kraft nach oben wächst, in die Unendlichkeit, und wie klein die Menschen sind und wie groß die Natur.
„Gerade solche Motive sind es, die Mut machen und zeigen, dass diese Zeit des langsamen Abschieds auch schön sein kann, intensiver als jede andere Zeit.“ Wenn Monika Schulz-Fieguth solche Gedanken ausspricht, wirkt sie gelöst und heiter und dem verlorenen Freund ganz nah. Auch als sie das Foto betrachtet, auf dem Peter Herrmann unter seinem Lieblingsbaum im Neuen Garten, seinen Elefanten, wie er die kunstvoll beschnittene Buche nannte, in kindlicher Freude posiert. Das sind leichte, ganz entspannte Augenblicke. Festgehalten Ende Juli 2009. Dann kam die Verzweiflung, das Ahnen des Endes. Das Leuchten in seinen Augen verlosch. „Aber er hat immer noch zugelassen, dass ich ihn fotografiere, obwohl er schon woanders schien, nicht mehr ganz von dieser Welt.“
Als von den Ärzten die Nachricht kam, dass es keine Rettung mehr gibt, hat das Ehepaar Schulz-Fieguth die Herrmanns noch einmal zu sich nach Hause an den Heiligen See eingeladen. Sie haben zusammen Wein getrunken und gefeiert und sich Traumbildern hingegeben. Wie ein Hochzeitspaar steht Peter Herrmann mit seiner schönen Frau Jeannette, die ein enges schwarzes Samtkleid trägt, vor der letzten üppigen Rosenblüte.
Immer haben sie über die Fotos des vorangegangenen Treffens gesprochen, so als wenn es dabei gar nicht um die konkrete Person Peter Herrmann ging. „Er hat sie wie ein Kunstwerk betrachtet.“ Monika Schulz-Fieguth hält inne bei dem Bild, auf dem er in seiner gemütlichen Wohnküche sitzt mit der dicken Jacke und dennoch friert. Oder bei dem Foto vom Kindergeburtstag, wo die bunten Lufballons am Treppengeländer hängen. Es schien ihm ganz wichtig, die Familie festzuhalten: Zu viert sitzen sie lachend und dicht zusammengekuschelt auf dem Sofa. Und dann hängen die Zuckertüten am Treppenlauf: zur Einschulung des „Großen“. Das war wohl der schwerste Moment, als der Vater die Rede hält und die Tränen nicht zurückhalten kann.
Natürlich stellte sich auch Peter Herrmann diese Frage: Warum gerade ich? Warum so mitten im Leben? Doch bevor er von seiner Diagnose erfuhr, war der Sohn schwer erkrankt und die Familie bangte um das Leben des Dreijährigen. Als Vater sagte er verzweifelt an eine imaginäre obere Macht gerichtet: „Nimm mich, statt meines Sohnes.“ Vier Wochen später erfuhr er von seinem Krebs an der Bauchspeicheldrüse, der natürlich schon längst in ihm steckte.
Monika Schulz-Fieguth besitzt diesen Langmut und die Gabe, sich auf dieses oft tabuisierte Thema Sterben ohne Wenn und Aber einzulassen. Sie hat es bereits mehrfach bearbeitet. Das erste Mal 1980, als eine Diakonissin im Oberlinhaus starb. Sie fotografierte auch über mehrere Monate den Physiker Hans-Jürgen Treder bis kurz vor seinem Tod. Und dann den eigenen Vater. „Die künstlerische Aufgabe des Fotografierens half mir mit über den Schmerz.“ Für die Künstlerin ist der Tod in seiner Erhabenheit wie eine Geburt. „Doch beim Tod bleibt nichts mehr offen. Er macht die Kostbarkeit des Lebens begreifbar und spendet zugleich diesen großen Trost: Das Leid ist vorbei. Du hast es in Würde geschafft und warst nicht allein.“ So wie es ihre „Pieta“ zeigt.
Krankheit und Tod sind der Fotografin, die an einem Totensonntag geboren wurde, immer gegenwärtig. Es interessiert sie, wie Menschen es schaffen, diese wohl größte Herausforderung des Lebens zu meistern, zu spüren, wie viel Leben auch in einer begrenzten Zeit steckt. Sie selbst hat ihr Grab schon fertig – mit einem Stein ohne Inschrift auf dem Bornstedter Friedhof. „Mein Mann und ich gehen gern dorthin. Wir haben etwas von unserem letzten Garten“, sagt sie, und dabei ist keinerlei Ironie zu spüren. „Wenn man alles für sich geordnet hat, kann man ohne Not hundert werden.“ Ihre Kinder leiden indes unter dieser Leichtigkeit, mit der die Eltern über den Tod reden. Sie möchten das Thema verdrängen, lieber darüber schweigen. So wie die meisten Menschen.
Wie allein gelassen sie sich in ihren Gedanken zum letzten Abschied fühlen, davon erzählen Menschen über 80 in dem Buch „Am Ende meines Lebens“, das 2008 im Verlag Rohnstock Biografien erschienen ist. Auch Michael Hanekes Film „Liebe“ oder Andreas Dresens bewegte Ode an das Leben „Halt auf freier Strecke“ machen durch ihre ganz schlichte Schilderung der alltäglichen Herausforderung mit der unheilbaren Krankheit betroffen und provozieren zugleich die Auseinandersetzung mit dem eigenen Ende und dem Wie. Diese Regisseure komponierten eine Totenklage, die zugleich eine Feier des Lebens ist.
Das Schweigen durchbrechen, das möchte auch Monika Schulz-Fieguth. Dennoch weiß sie, dass die Berührungsängste groß sind. Viele Menschen glauben, dass sie den Tod heraufbeschwören, allein wenn sie über ihn sprechen. Und noch viel schwieriger ist es, dem Tod direkt ins Gesicht zu schauen. Bei der Ausstellung von Annie Leibovitz fragten viele Besucher, ob man das Leid tatsächlich so ungeschminkt vor Augen führen müsse. Wie viel Intimität ist erlaubt? Wie viel Leid ist erträglich?
Die Potsdamer Fotografin erlebte den körperlichen Abbau des Sterbenden ganz unerschrocken. Für sie wurde Peter Herrmann sogar immer schöner, immer markanter. „Und er blieb bis zuletzt dieser Gütige.“ Besonders faszinierten sie am Ende seine Hände. Sie zeigt das Foto, wie die schmalen langen Finger eine weiße Teetasse halten, ganz zart, ganz vorsichtig, beide so zerbrechlich.
Über ein Dreivierteljahr hat sie Peter Herrmann begleitet, der trotz des körperlichen Zerfalls in seiner Seele immer dichter, immer stärker wurde. „Die Krankheit hat ihn so reich gemacht. Er lebte eine Intensität, die man ohne das Leid nicht haben kann.“ Erst am Ende kam die Angst. Und auch das Gespräch über den Tod. Sachlich, philosophisch. Alles war klar, alles ausgesprochen. Er wollte zu Hause sterben, im Kreis seiner Liebsten. Und damit meinte er auch seine Freunde.
Dann kam diese Nacht und dieser Anruf: „Du kannst kommen, es ist vollbracht.“
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