zum Hauptinhalt

Kultur: Ferne Welten

Zur Eröffnung fragte das Filmfestival Sehsüchte, wie fern sich Menschen sein können, die sich doch nahe stehen

Stand:

Im Foyer des Thalia-Kinos liegt die „Berlinskaja Gazeta“ aus. Für die russischen Gäste, denn in diesem Jahr hat das Studentenfilmfestival „Sehsüchte“ der Filmhochschule HFF den Fokus Russland. Ansonsten herrscht kurz vor Eröffnung des Festivals am Dienstag Abend eher Western-Stimmung: Heuballen, Holzkisten, Dollarsäcke. Was nicht unbedingt zu Russland passt. „Eine Provokation“, munkelt man. Doch die Besucher, die ins Kino strömen, interessieren sich mehr für die Tageszeitungen: Neugierig wird studiert, was hier Neues über die mittlerweile als „Fall von Potsdam“ bezeichnete Attacke auf den Deutschafrikaner steht. Immer noch.

Die Eröffnung eines Filmfestivals lebt in erster Linie von den Filmen. Die kommen für gewöhnlich zum Schluss, wenn allen Unterstützern gedankt ist, und alle Gäste und Preis vorgestellt sind. Diesmal gab es aber schon zwischen den Grußworten etwas zu sehen, Bilder aus dem Potsdam dieser Tage, Bilder mit bedenklichen Worten. Als Reaktion auf die fremdenfeindliche Attacke haben die Filmstudenten der HFF ihre Ausrüstung geschnappt und in der Stadt die Menschen gefragt, was sie von dem Überfall halten. Und als hätte die Technik die Unerhörtheit der Worte erkannt, bricht der Film jäh ab, als ein junges Mädchen sagt, dass es doch sehr viele Ausländer in der Stadt gäbe, die einen auch anmachen würden. Ihre Freundin ergänzt, dass man dabei „so etwas“ schon verstehen könne. Nach einer kurzen Pause verbessert sie sich dann aber noch: natürlich nicht so etwas Schlimmes.

Als die technische Panne behoben ist, kommen weitere haarsträubende Statements. Zwei ältere Frauen sagen gleich: Ausländer gehören in ihre Heimat zurück, der Ausländeranteil müsse gesenkt werden. Ein Mann meint, nichts gegen Ausländer zu haben – wenn sie sich unterordnen. Da verblassen die wenigen differenzierten Statements, zumal Aussagen wie „Wir sind doch alle Brüder“ eher von ausländischen Mitbürgern kommen. Hoffnung machen da nur die Jungs beim Angeln, die überhaupt kein Verständnis für die Tat und ihren Hintergrund haben.

HFF-Präsident Dieter Wiedemann darf direkt nach dem Kurzfilm sprechen. Und findet die richtigen Worte. „Wir leben heute in einer empfindungslosen Gesellschaft“, stellt er fest. Nun seien die Künstler, gerade auch die Filmemacher gefragt, um wieder Empfindsamkeit herzustellen. Ein internationales Festival wie die „Sehsüchte“ sei ein wichtiger Schritt, damit Potsdam wieder das werde, was es einmal war: eine Stadt, in der viele Kulturen zu Hause sind. Man merkt dem Präsidenten der Filmhochschule an, wie sehr ihn dieser Fall beschäftigt. Doch auch einen vergleichsweise profanen Wunsch äußert Wiedemann dann noch: nämlich, dass das mittlerweile größte europäische Studentenfilmfestival in Zukunft wieder auf das Studiogelände zurückkehre. In die Nähe der Filmhochschule.

Durch das Programm führen zur Eröffnung eine glamouröse Diva und ein launiger Cowboy mit Tom-Cruise-Lächeln. Hier ein „Nasdorowje“, da ein Kostümwechsel, und schon hat sie den Cowboyhut auf und er eine Husarenuniform an. Im Zwiegespräch brechen die beiden immer wieder selbstironisch ihre Rollen auf. Was locker macht, dem Abend seine Steifheit nimmt. Rückendeckung bekommen die beiden Studierenden dann noch vom Vertreter der russischen Botschaft, der mit seinem trockenen Humor eigentlich die meisten Lacher auf seiner Seite hat. Etwa, wenn er hofft, dass sein Chef in ebenso guter Gesellschaft ist wie er selbst hier in Potsdam – der Botschafter weilt gerade beim Putin-Merkel-Gipfel. Auch von der neuen Aufbruchsstimmung im russischen Film berichtet der Diplomat. „Leute, holt hier alle Preise und kommt nach Haus. An die Arbeit!“, ruft er schließlich den russischen Filmstudenten zu. Die Stimmung im Saal steigt.

Dann die Filme. Eine vortreffliche Auswahl zur Eröffnung. Gute Ideen, technische Raffinesse, alle fünf Filme der Eröffnung auf hohem Niveau. Und durchaus auch mit Anknüpfungspunkten zur aktuellen Debatte in der Stadt. Etwa der polnische Kurzfilm „x2“ (Freitag, 15 Uhr, Thalia 1). Zwei junge Männer aus ganz verschiedenen Milieus, der eine ein Punk, der andere eher kurzhaarig-aggressiv. Durch einen Zufall erfahren sie bei einem Polizeiverhör, dass sie mehr gemeinsam haben als sie denken, nämlich den Vater. Der Film endet etwas unerwartet, doch es ist klar, dass sich hier zwei Brüder gefunden haben, auch wenn ihre Welten ferner gar nicht sein könnten.

Ebenso weit voneinander entfernt scheinen Mutter und Sohn in dem russischen Film „4+“ (Freitag, Thalia 2, 18 Uhr). Der Sohn kommt überglücklich über eine gute Schulnote nach Hause. Die Mutter ist abweisend, genervt. Immer wieder zerschneidet das Telefonklingeln das Band zwischen den beiden. Nur kurz, als das Telefon einmal verstummt, keimt im Blick der Mutter so etwas wie Liebe zu ihrem Sohn auf. Dann schickt sie ihn weg. Der Film lässt viele Erklärungen zu. Nur so viel ist klar, der Vater ist weg und die Mutter mit ihren eigenen Problemen beschäftigt.

Zum Abschluss dann die Dokumentation „Kopfende Hassloch“ (Freitag, 17 Uhr, Thalia 1) . Man meint, es mit einer als Dokumentarfilm getarnten Fiktion zu tun zu haben. 3000 Haushalte werden in der pfälzischen Stadt Hassloch zum Test neuer Produkte von einer Supermarktkette überwacht. Doch das ist Realität, „kontrollierte Realität“ wie die Werbefachleute es nennen. Begeisterung im Kino-Saal. Die ganze Absurdität der modernen Zivilisation in einer halben Stunde auf den Punkt zu bringen, das verdient schon doppelten Applaus.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })