
© M. Thomas
Kultur: Für immer mit einem Tuch bedeckt
Fern der Heimat bestattet: auf den russisch-orthodoxen Friedhöfen / Ein ganz persönlicher Spaziergang
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Der russische Krimi-Autor Grigori Tschachartschwili, bekannt auch als Boris Akunin, schrieb, dass Friedhöfe das Geheimnis der Zeit bergen, die vor uns war. Aber sie flüstern auch von der Zeit, die nach uns kommt. Im vergangenen Sommer besuchten wir vier Friedhöfe in und um Potsdam und haben Erstaunliches entdeckt, sei es in der Historie oder in der Kulturgeschichte. In den kommenden Wochen laden wir wieder zu einem Streifzug zu Stätten der Ruhe und des Gedenkens ein. Heute: Russisch-orthodoxe Friedhöfe.
Geschlossen. Der Friedhof der Russisch-orthodoxen Gemeinde Potsdam unterhalb des Kapellenbergs ist für Besucher nicht geöffnet. Das erst 2007 aus Nadelholz angefertigte zweiflüglige Tor mit dem aufgesetzten orthodoxen Messingkreuz, das an die alten Eingangspforten der benachbarten Blockhäuser der Kolonie Alexandrowka erinnert, ist nicht zu öffnen. Auf dem Friedhof ruhen keine russischen Sänger, für die die Kolonie im Auftrag König Friedrich Wilhelm III. gebaut und gestaltet wurde. Die Mitglieder des Chores waren das „singende Geschenk“ Zar Alexanders I. an den preußischen König in den Koalitionszeiten des Befreiungskrieges zwischen Russland und Preußen gegen Napoleon. Sie mussten in den Uniformen des Potsdamer Garderegiments in den Krieg marschieren, doch mehr zur Unterhaltung und Erbauung der Soldaten. Mit der Zeit zählte man jedoch immer weniger Sänger. Zunächst waren es noch 21 Mitglieder, ab 1815 – also nach den Kriegsjahren – nur noch Zwölf. Wie die Fliegen sollen sie gestorben sein, berichtete ein Chronist in großer Deutlichkeit. Sie wurden auf dem Alten Friedhof in der Teltower Vorstadt beigesetzt. Doch kein Grab ist von ihnen dort mehr zu finden.
Hier an der Nedlitzer Straße gibt es seit fünf Jahren einen Friedhof der russisch-orthodoxen Gemeinde. Auf ihm finden ihre Gläubigen in geweihter Erde die letzte Ruhe. Die Nachfrage bei der Aufsichtsdame in der nahe gelegenen Alexander-Newski-Kirche war wenig befriedigend. Obwohl sie Besuchern des Gotteshauses zuvor in einem fließenden Deutsch Fragen beantwortete, scheint für sie unser Anliegen tabu zu sein. „Ich verstehe Sie nicht“, sagte sie auf Russisch.
Also betrachten wir den Neuen Friedhof von außen, schauen über den Zaun. Sieben Grabhügel sind bisher aufgeschüttet, geschmückt mit frischen Blumen. Die schlichten Holzkreuze tragen kleine Tafeln, die die Namen und die Lebensdaten der Verstorbenen benennen. Hier und da haben die Hinterbliebenen auch Fotografien mit Porträts ihrer Toten angebracht. Erinnerungsbilder. Sie haben vor allem auf Friedhöfen in Ost- und Südeuropa Tradition. Eine Grabstelle fällt jedoch aus dem Rahmen. Man hat sie aus Marmor angefertigt. Ein Beleg für Reichtum?
Die Zahl der Mitglieder der russisch-orthodoxen Gemeinde hat sich in Potsdam in den vergangenen beiden Jahrzehnten nach dem Untergang des Sowjetstaats mit mehr als 1000 Gläubigen vervielfacht. Die Meisten kamen nach 1990 aus Russland nach Deutschland. Eine neue Lebensqualität wollten sie hier fern der Heimat finden. Doch auch Deutsche konvertierten zum russisch-orthodoxen Glauben.
Die Toten der Kirche brauchen nun nicht mehr, wie bis 2007 üblich, zur letzten Ruhe auf dem russisch-orthodoxen Friedhof in Berlin-Tegel gebettet werden. Für die Angehörigen ist es ein besonderer Trost, dass die Aussegnung des Verstorbenen in unmittelbarer Nähe des Friedhofs geschehen kann, in der Alexander-Newski-Kirche. Sie findet jeweils am geöffneten Sarg statt. Dabei spricht der Priester während eines Gebets den Toten von allen Flüchen, Schwüren, Verwünschungen und von allen Sünden frei. Er muss sie aber zu seinen Lebzeiten noch bereut haben. Ein Papier mit den Worten dieses Gebets wird dem Verstorbenen auf die Reise mitgegeben. Dessen Gesicht bedeckt der Priester nach der Verabschiedung durch die Angehörigen für immer mit einem Tuch und streut Erde darauf. Damit wird der Tote der Erde übergeben.
Auf dem Kapellenberg herrscht an und in der Alexander-Newski-Kirche reges Treiben. Der größte Teil der Spaziergänger sind Touristen. Jeder Reiseführer über Potsdam weist auf das Gotteshaus als besonders attraktives Ziel hin. Die Kirche, die dem Heiligen Alexander Newski gewidmet ist, wurde schließlich von zwei berühmten Hofarchitekten erbaut: dem Russen Wassili P. Stassow sowie dem Preußen Karl Friedrich Schinkel. 1829 fand im Beisein des Zarenehepaares Nikolaus I. und Alexandra Feodorowna, eine Tochter Friedrich Wilhelm III., der erste Gottesdienst statt. Der preußische König war selbstverständlich ebenfalls anwesend. Die Kirche, die fünf Kuppeltürme in traditioneller russischer Zwiebelform trägt und einen reich ausgestatteten Innenraum mit Ikonen ihr Eigen nennt, weihte Erzpriester Johannes Tschudowski ein. Der Geistliche lebte noch neun Jahre nach der Einweihung und feierte in der Kirche mit den Gläubigen Gottesdienste. Am 6. Oktober 1838 starb er. Er war wohl der erste Verstorbene, der direkt neben der Kirche beigesetzt wurde. Auf dem Mini-Friedhof wurden und werden nur Geistliche und Gemeindemitglieder begraben, die sich um die Alexander-Newski-Kirche besonders verdient gemacht haben. Das war zunächst Tschudowski. An der Apsis ist ein Gedenkstein für den Geistlichen eingelassen, der in russischer und deutscher Sprache informiert, dass hier in Gott „der Kaiserlich-Russische Gesandschafts-Probst Johannes Tschudowski, geboren in Russland zu Tschudowo im Gouvernement Nowgorod den 24ten October 1765, gestorben in Berlin den 6ten October 1838“ ruhe.
Fünfzehn Grabsteine findet man auf dem Friedhof, der von einem schmiedeeisernen Zaun eingegrenzt wird. Auch dafür fühlte sich Schinkel verantwortlich. Er lieferte die Entwürfe.
Auf den meisten Steinplatten sind die Namen der Verstorbenen, die in kyrillischen Buchstaben wiedergegeben wurden, kaum noch zu lesen. Mit Anstrengung entziffert man, dass hier auch ein Graf Wassili P.G. Kutusow und seine Frau Sofia beigesetzt wurden. Der Generaladjutant nahm 1895 als Militärbevollmächtigter des Zaren Nikolaus II. beim deutschen Kaiser Wilhelm II. in Berlin die Arbeit auf. Er war ein Nachfahre des gleichnamigen legendären Bezwingers Napoleons in der Schlacht von Borodino im Jahre 1812.
Der jüngste Grabstein ist dem Andenken des Erzpriesters Nikolaus Markewitz (1898-1968) und seiner Frau Maria (1901-1971) gewidmet. Markewitz war von 1948 bis zu seinem Tod Geistlicher der Gemeinde. Über ihn haben sein Sohn Nikolai Markewitz sowie der ehemalige Leiter des Museums Alexandrowka, Andrej Tchernodarov, ein Buch mit dem Titel „Freude ins Herz bringen. Wege eines osteuropäischen Priesters durch Länder und wirre Zeiten“ geschrieben, das demnächst in den Buchhandel kommt. In der Ankündigung ist zu lesen, dass die Wege des Erzpriesters vielfältig waren. „Sie erstreckten sich in wirren Zeiten zwischen Gewalt und Familienglück von Bessarabien und Russland über die Ukraine und Polen bis in die sowjetische Besatzungszone Deutschlands und die DDR.“ Die russisch-orthodoxe Gemeinde war bis Ende der achtziger Jahre verschwindend klein. Die meisten Russen, die in Potsdam und Umgebung lebten, waren Angehörige der Roten Armee. Es war ihnen verboten, Kontakt mit dem Priester aufzunehmen und eine Kirche zu besuchen. Denn die kommunistische Idee, die in den Kasernen gepredigt wurde, negierte den Glauben an Gott. Wer sich aber doch zu ihm bekannte, musste heimlich den Kapellenberg, seine Kirche und das daneben stehende Aufseherhaus, wo der Priester wohnt, besuchen. Die Soldaten der Roten Armee und ihre Angehörigen, die in Potsdam starben, wurden auf Russischen Friedhöfen auf dem Bassinplatz (ab 1945 nur Kriegstote) sowie an der Michendorfer Chaussee (ab 1946) zur letzten Ruhe getragen. Vielleicht hätte sich dieser oder jener gewünscht, dass sein letzter Weg von einem Priester begleitet worden wäre. Aber das durfte kein Thema für sowjetische Soldaten sein.
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