Kultur: Gehäutet Politiker erinnern sich an Neuanfang in Brandenburg
22 Köpfe überziehen das Cover. Alle in Schwarz-Weiß.
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22 Köpfe überziehen das Cover. Alle in Schwarz-Weiß. Nur der Titel des Buches hebt sich ab: „Neuanfang in Brandenburg“ ist in roten Lettern zu lesen. Das Buch ist indes keine Vision, sondern eine Rückschau. Die Autorinnen Andrea von Gersdorff und Astrid Lorenz befragten Politiker, welche Erinnerungen sie an den Herbst 1989 haben und was sie motivierte, aktiv in der Umgestaltung Brandenburgs mitzumischen. Doch will das heute wirklich noch jemand wissen?
Viele Gesichter sind inzwischen vergessen. Wer erinnert sich schon noch an Hannelore Birkholz oder Frank Dietrich? Andere setzten sich dank ihres Engagements in der Erinnerung fest, wie Ex-Kulturminister Hinrich Enderlein oder Regine Hildebrandt, deren Witwer stellvertretend über die „Mutter Courage des Ostens“ Auskunft gibt. Auch Manfred Stolpe und dessen Thronfolger Matthias Platzeck schauen zurück, ebenso wie der Mann der offenen Worte, Günter Nooke, oder Pragmatiker Wolfgang Birthler.
In der Verzahnung privater und politischer Erinnerungen ist die von der Landeszentrale für politische Bildung herausgegebene Lektüre lesenswerter als auf den ersten Blick vermutet. Zumal Biografien und Motive zum gesellschaftlichen Mittun weit auseinander klaffen. Der Mensch tritt hinter dem Politiker hervor, was man sich auch von den oft sehr ähnlichen Fotomotiven gewünscht hätte.
CDU-Landtagsabgeordnete Beate Blechinger reflektiert zum Beispiel die DDR mit Schlangestehen und Eingesperrtsein. Sie führte in der Schule ein Außenseiterleben, da sie statt zu den Pionieren in die Kirche ging. Erstaunlicherweise wurde sie selbst Lehrerin, musste allerdings 1986 den Schuldienst quittieren, weil ihre Tochter nicht die Jugendweihe ablegte. Als sie sich für eine Laufbahn in der (Bildungs)-Politik entschied, war sie anfangs sehr rigoros. Ihre Maxime hieß: Alle Stasileute raus und möglichst alle Sekretäre der Partei dazu. Bis ihr klar wurde, dass man Biografien nicht verallgemeinern kann. „Es haben nicht alle gelitten in der DDR.“ Und so wechselte sie zu dem christlichen Gebot: „Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.“ Nur so konnte sie wohl auch mit dem Linken-Politiker Heinz Vietze auf Augenhöhe diskutieren. Der kommt in dem Buch ebenfalls zu Worte, erinnert u.a. an die vom Neuen Forum angeprangerte Wahlfälschung. „Ich habe noch sehr gut die Diskussion in Erinnerung, als wir unter uns gesagt haben, es darf nicht zu einem Betrug bei der Kommunalwahl kommen. Der wurde dann aber trotzdem organisiert.“ In dieser Situation habe er einfach Farbe bekennen müssen. „Und da sind wir in der innerparteilichen Auseinandersetzung offener geworden.“ Ein eigenes Schuldbekenntnis Vietzes sucht man in dem Rückblick indes vergeblich.
Das Buch lädt ein, sich an Äußerungen zu reiben oder eigene Erinnerungen abzurufen. Erfrischend ist es beispielsweise, in der Nachbetrachtung Peter-Michael Diestels zu lesen, der in der Jungen Gemeinde aktiv war und dennoch nicht ausgegrenzt wurde. „Das Leben in der DDR hatte für mich etwas Selbstverständliches. Dazu gehörte auch ein Höchstmaß an Unzufriedenheit. Trotzdem war es ein sehr schönes Leben. Ich wusste, was ich darf, ich wusste, was ich nicht darf. Ich hatte mich mit der DDR arrangiert.“ Politisch aktiv wurde er dennoch, „weil ich aus dieser dumpfen staatlichen Hülle DDR raus wollte.“ Ein Motiv, das sich durch das ganze Buch zieht. Heidi Jäger
Kostenlos erhältlich in der Landeszentrale für politische Bildung, H. Mann-Allee 107, Mo u. Do 9 bis 12, Di u. Mi 13 bis 18 Uhr
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