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Kultur: Heimsucherin

Nitya Ramchandran ist im „Quendel“ mit ihrer Ausstellung „My country is my shoes“ zu sehen

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Ihr Leben könnte die Drehbuchvorlage für „Chocolat“ gewesen sein. So wie die kleine Anouk in dem französischen Film mit ihrer Mutter von einem Ort zum anderen zog und nie sesshaft wurde, ist auch Nitya Ramchandran eine Heimatlose. Und nicht zufällig heißt ihre eigene Tochter Anouk. In der Ausstellung „My country is my shoes“, die derzeit im Restaurant „Quendel“ zu sehen ist, erzählt Nitya Ramchandran von diesem Getriebensein, von der unerfüllten Sehnsucht nach einem Halt, nach Wurzeln, die nie wachsen konnten.

Es ist das erste Mal, dass die in Indien geborene junge Frau ihre Bilder in einer Personalausstellung zeigt. „Es ist sehr schön für mich, hier zu sitzen“, sagt die 36-Jährige mit dem halblangen dunklen Haar. Sie freut sich, dass die Blicke der Quendel-Gäste ab und an über ihre Fotografien und Malereien schweifen. Hier, mitten im Leben, und nicht in einer „toten Galerie“ wollte sie sich künstlerisch offenbaren – mit ihrer zerrütteten Seele, aber auch mit den kleinen Ankern, die sie nach langer Odyssee vorsichtig ausgeworfen hat.

Vor allem ihre mit China-Tinte gezeichneten Bilder „Roots in the Sky“ rühren den Betrachter an, zeigen das Fragile, Schattenhafte eines davon schwebenden Wesens. „Es ist, als würde ich aus meinem Tagebuch vorlesen.“ In einer reduzierten dichten Sprache erzählen die Zeichnungen von dem Flüchtigen, sich ständig wieder Auflösendem in ihrem Leben. Auch wenn Nitya Ramchandran für eine Weile ihre Schuhe beiseite gestellt hat, ist die Malerin sich sicher, dass das nicht von Dauer ist. Aber erst einmal möchte sie ihrer zehnjährigen Tochter die Chance geben, hier in Potsdam ihre Heimat zu finden.

Eine Chance, die sie selbst nie hatte. Es waren wohl nur die ersten Monate nach der Geburt, in denen es allein um die Nestwärme für das kleine Mädchen ging. Entsprechend der indischen Tradition zog ihre Mutter nach der Entbindung mit ihr in das Haus der Großmutter. „Väter spielen in Indien nach der Geburt ihrer Kinder eine sehr untergeordnete Rolle.“ Doch kaum wieder beim Vater, der als Ingenieur für Chemie arbeitete, ging das Herumreisen los: erst innerhalb Indiens, dann in den Oman, nach Saudi-Arabien, Nigeria, schließlich nach Hamburg.

Als das Mädchen elf Jahre alt war, gaben sie die Eltern, die weiter in der Hansestadt lebten und arbeiteten, in ein Internat nach Indien. Heute, wo ihre eigene Tochter etwa in dem selben Alter ist, hinterfragt Nitya Ramchandran durchaus diese Entscheidung. Nicht im Affront, sondern in ihrer leisen, mit sich selbst hadernden Art. Sie weist den Eltern keine Schuld zu. Die attraktive Frau mit den glühenden Augen formuliert behutsam, abwägend, aber auch mit zunehmender Klarheit.

„Ich fühlte mich damals im Internat, wo man so schnell erwachsen werden musste, sehr fremd. Ich kannte Indien ja fast gar nicht.“ Oft habe sie still in einer Ecke gesessen und gemalt. Oder sie kletterte auf hohe Bäume, um ganz für sich zu sein. Immer hatte sie die Kamera ihres Vaters bei sich. Schwarz-Weiß-Fotos von Kalkutta waren ihre erste Ausbeute. Sie liebte es, in der Dunkelkammer zu stehen, die Anspannung zu spüren, wenn aus dem „Nichts“ die Bilder aufsteigen.

Heute hat sie dieses oft quälende Gefühl der Außenseiterin zur Quelle ihrer Kunst gemacht. Bei der genreübergreifenden Erkundung „Heimsucher“, auf die sie sich ab Januar mit der Tanzgruppe „Oxymoron“ begibt, wird sie in der Galerie Kunstraum diesem Thema gemeinsam mit anderen Heimsuchern nachspüren. „Eine Arbeit, für die ich erst jetzt reif bin: Der Austausch in der Gruppe eröffnet mir eine Erfahrung, die aus der Isolation herausführt.“ In der jetzigen „Quendel“-Ausstellung ist sie noch ganz auf sich selbst fokussiert. Und auf ihre neue Liebe: zum Heiligen See. Auch er verschwimmt auf ihren Fotos, steigt aus dem Nebel auf wie eine Fata Morgana. Mehr Vermutung als Gewissheit. So wie die Figuren in ihrer Malerei.

Immer gab ihr die Natur Halt, damals in Indien die Bäume, hier in Potsdam das Wasser. „Beim Fotografieren bin ich wie beim Yoga sehr mit mir in Kontakt, ahne, was im nächsten Moment kommen könnte. In der Malerei gibt es diesen einen Augenblick nicht.“ Hier liegen viele Schichten übereinander, Ablagerungen von Ereignissen, Prozessen. Auf einem Bild ist ein Mann mit Brille zu sehen. „Es könnte mein Großvater sein. Doch er trägt nicht die weiße heilige Kuhdungasche auf der Stirn, wie ich sie von ihm kenne, sondern das rote Sindoor, Zeichen der weiblichen Urenergie. Es ist nicht immer alles logisch, was in der Kunst passiert.“ Fotografie sei Ausdruck des Moments und der Freude, manchmal auch der Melancholie. Aber Malen sei verarbeiten. Sie selbst trägt selten die spirituelle Farbe auf Stirn und Scheitel. „Ich möchte nicht übermäßig auffallen.“ Nur wenn sie sich in indische Kleidung hüllt, bei Hochzeiten oder einem Lichterfest, malt sie sich das „dritte Auge“ auf die Stirn.

Dass sie heute in Deutschland lebt, bedurfte eines langen Reifeprozesses, der aus dem folgsamen Kind eine selbstbestimmte Frau werden ließ. Da war die geplante Hochzeit mit einem Moslem, die sie drei Tage vorher absagte, nachdem die Eltern des Mannes wollten, dass sie konvertiere. Die unsichere, hin- und hergerissene Frau lernte die heilsame Kraft des Ashram schätzen, in den sie sich zurückzog, wenn sie Klarheit suchte. Auch nach ihrer Scheidung verbrachte sie drei Jahre mit ihrer Tochter in dieser spirituellen Gemeinschaft in Indien. Eines ihrer Bilder, in deren Mitte ein Buddha ruht, zeigt die mögliche Erdung. „Außerhalb dieser Insel fühlte ich mich als geschiedene Frau wie Freiwild. Gerade mit meiner brauner Hautfarbe.“

Deutschland gibt ihr Sicherheit und auch die Beziehung zu ihrem jetzigen Freund, der eine ganz andere Beständigkeit aus seiner Kindheit mitbringt. Nitya Ramchandrans Eltern wohnen inzwischen wieder in Indien, seit anderthalb Jahren hat sie sie nicht gesehen. „Ich habe große Sehnsucht nach ihnen.“

Doch da gibt es andere Vertraute, wie die in Potsdam lebende Malerin Gosha Nagashima-Soden. Bei ihr nahm sie Kunstunterricht, als sie mit 15 Jahren aus dem Internat zurückkehrte und sich in Hamburg am Gymnasium wieder alleine fühlte. Heute überlegen beide Frauen, sich ein Atelier zu teilen und gemeinsam Kunstunterricht zu geben.

Nitya studiert inzwischen Kunsttherapie und hat in der Fotografie, Malerei und im Yoga wichtige Säulen für ihr Leben gefunden. Doch noch immer fühlt sie sich als Heimsucherin. „Ich habe keine Nationalität. Mein Land sind meine Schuhe.“

Zu sehen im Quendel, Sellostraße 15 a, Mo bis Sa, 17 bis 24 Uhr, So 13, bis 24 Uhr

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