
© Manfred Thomas
Kultur: Im Grenzbereich
Die 10. Lange Nacht der freien Theater im T-Werk wartet mit zehn Stücken und einem Konzert auf
Stand:
Es beginnt mit dem Existenziellsten überhaupt: dem menschlichen Körper. Der ist die Grundlage für alles andere und insofern ist es logisch, dass Golde Grunskes Stück „Körperbilder“ am morgigen Samstag die 10. Lange Nacht der freien Theater im T-Werk eröffnen wird. Wie gestört das Verhältnis vieler Menschen zu ihren Körpern ist, das sieht man an den Rändern – oder eben an den fehlenden Rändern. Zu dick, zu krumm, zu schief: Die Grenzen sind nicht mehr klar in einer Gesellschaft, in der es Nahrung im Überfluss gibt und dünn sein das höchste Ideal ist. Eine Übung für Essgestörte ist deshalb, Grenzen zu ziehen: den eigenen Umriss nachzeichnen, mit Kreide auf der Wand oder dem Boden. Genau das machen auch die vier Tänzerinnen in Golde Grunskes Choreografie und zeigen so die Deformationen, die – von innen und außen – auf den Körper einwirken.
Das ist politisch, weil der Körper nicht nur für sich existiert: Jeder ist Teil der Gesellschaft und wird zugleich vom Druck der Gesellschaft geformt. Mit der ganz realen Politik setzt sich Hans-Hermann Hertles Stück „Gipfelgespräche“ auseinander – und auch hier geht es wieder um verschwimmende, unklare Grenzen: Denn die Inszenierung des Theater 89 ist eine Rekonstruktion der Telefonate zwischen Helmut Kohl und Michail Gorbatschow am 11. Oktober 1989, zwischen Helmut Kohl und Egon Krenz am 26. Oktober – und des Gipfeltreffens von Krenz und Gorbatschow am 1. November in Moskau. Ein politischer Eiertanz also, der schließlich über sich hinauswuchs und zum Ende der DDR führte. Wenn das im Nachhinein grotesk wirke, schreibt Hertle, dann nur, weil wir heute den Ausgang der Geschichte kennen. Aus echter Staatskunst wurde über die Jahre also eine Staatskomödie.
Beide Stücke sind bei der Langen Nacht der freien Theater nur in Ausschnitten zu sehen – genauso wie die acht weiteren Stücke. Anders wäre das Programm gar nicht zu schaffen. Schon so müssen sich die Besucher immer wieder entscheiden zwischen Stücken, die auf der Hauptbühne im T-Werk laufen und denen, die auf der Probebühne, in der Schinkelhalle und auf dem Schirrhof zu sehen sind. Genau das aber ist das Konzept: eine lose Übersicht zu bieten über die freien Theater im Land Brandenburg. Und so reist die Kompanie um Golde Grunske – ebenso wie das Piccolo Theater für Kinder – aus Cottbus an, das Theater 89 aus Berlin, und das Wandertheater Ton und Kirschen wie jedes Jahr aus Glindow. Von dort bringen Ton und Kirschen in diesem Jahr eine Vorschau auf „Hundeherz“ mit, eine Straßentheater-Adaption nach der Erzählung von Michail Bulgakow. Und auf die Straße – oder in diesem Fall den Schirrhof – passt diese zynische Satire auf den von der Sowjetunion propagierten „neuen Menschen“. Bulgakow schrieb den Text schon 1925 – und wurde vom Staat in die Schranken gewiesen. Denn dem missfiel Bulgakows Kritik an der Deformation der kommunistischen Idee. Nicht unbedingt verwunderlich, immerhin wendet sich darin ein durch ein Experiment entstandener, ruchloser Hundemensch gegen seinen Schöpfer. Was als neuer Mensch konzipiert war, wird zum Alptraum. Die Folgen für Bulgakow waren drastisch: Erst 1987 – 47 Jahre nach seinem Tod und kurz vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion – durfte seine Erzählung dort erscheinen.
Nach Russland blickt übrigens auch das Potsdamer Poetenpack: Die zeigen bei der Langen Nacht einen Ausschnitt aus ihrer Tschechow-Adaption „Onkel Wanja“. Hier sind die Grenzen, mit denen die Figuren hadern, keine primär politischen, sondern private – und deshalb vielleicht umso enger. Gegen das Diktat der eigenen Gefühle lässt es sich erfahrungsgemäß noch schwerer rebellieren als gegen politische Systeme. Mitten in den russischen Wäldern suchen fünf Menschen die wahre Liebe – und müssen am Ende doch nur die eigene Selbsttäuschung erkennen. Das ist so bitter-traurig wie komisch zugleich.
Um enttäuschte Liebe dreht sich auch „Knocking on angels door“, einer Produktion des Potsdamer Theaterschiffs. Drei Männer ringen hier mit ihrer Sehnsucht und den Zweifeln an der eigenen Männlichkeit. Auch im Angesicht von Engeln verfallen sie nur wieder in alte Schemata der Angst und eingeübte Reaktionsmuster, die Erwartungen der anderen werden zu unüberwindlichen Hürden.
Damit die Lange Nacht nicht ganz so verzweifelt endet, sprengt die Gruppe The Sideshow Charlatans mit ihrer Zauber-Revue am Ende immerhin ein paar Grenzen des Bewusstseins: Da werden Köpfe aufgeblasen und Gedanken übertragen – womöglich nimmt so jeder ein paar neue Ideen über Grenzen und ihre Grenzen mit nach Hause.
Die „Lange Nacht der freien Theater“ findet am morgigen Samstag ab 19 Uhr im T-Werk in der Schiffbauergasse statt. Weitere Spielorte sind die Schinkelhalle und der Schirrhof. Tagestickets kosten im Vorverkauf 16, ermäßigt 10 Euro, an der Abendkasse jeweils 2 Euro mehr.
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