Kultur: „Jede Depression hat ihr eigenes Gesicht“
Ines Geipel hat ein Buch über Robert Enke und das Thema Depressionen geschrieben – Heute stellt sie es in Potsdam vor Da existiert ein großer Trauerraum, eine dunkle Grammatik des Selbst.“
Stand:
Frau Geipel, am Abend des 10. November 2009 warf sich der deutsche Nationaltorwart Robert Enke vor einen Zug und nahm sich das Leben. In Ihrem Buch „Seelenriss. Depression und Leistungsdruck“, das Sie heute in Potsdam vorstellen, beginnen Sie mit diesem 10. November. Warum war ausgerechnet Robert Enkes Selbstmord für Sie das entscheidende Ereignis, sich mit dem Thema Depression zu beschäftigen?
Für mich war das ein symbolischer Augenblick. Enke war ein junges Idol, sein Leben eine Glanzgeschichte, zumindest nach außen, und dann dieser rabiate Tod. Ich habe in den Tagen danach die Medien beobachtet, die von Robert Enke allein als dem Mann aus Hannover berichteten. Ich hatte dabei das Gefühl, das ist hier nur die Hälfte der Geschichte, es fehlt ein Stück in diesem Bild.
Also war da auch eine Unzufriedenheit über die oberflächliche Berichterstattung kurz nach diesem Tod.
Mich hat das einfach beschäftigt. Ich war an demselben Gymnasium in Jena wie Enke, habe viele Jahre in dieser Stadt gelebt. Und dann darf er nur der Hannoveraner sein? Das kam mir wie eine Enteignung von Geschichte vor. Warum schreibt man denn diese Art Bücher? Weil man versucht, bestimmte Dinge weiterzuerzählen oder ein Bild zu vervollständigen.
Sie kannten wie Robert Enke auch das Hochleistungssportsystem in der DDR aus eigener Erfahrung.
Ja, und mich hat sein Weg immer ungemein beeindruckt. Er war einer der Ersten, der mit seinem Talent in den Westen gegangen ist. Das haben sich zu der Zeit nur ganz wenige zugetraut. Außerdem interessiert mich diese Generation der 30-Jährigen. Ich verstehe sie erst einmal nicht.
Warum verstehen Sie ausgerechnet die Generation der heute 30-Jährigen nicht?
Für sie bedeutet der 9. November 1989 nicht nur die Öffnung, wie beispielsweise für mich. Diese Generation spricht dabei viel von Trauer, denn von dem Moment an war ihre Kindheit weg. Sie wollen gründen, sich in besonderer Weise beheimaten, etwas verbinden und nicht zuerst Differenzen ausmachen. Sie sind oft sehr mit ihren Eltern identifiziert, halten sich gern die DDR als inneres Märchen. Und diese Brüche, Bruchlinien haben mich interessiert.
Nun ist aber „Seelenriss“ keine Biografie von Robert Enke geworden, sondern ein Buch über die Volkskrankheit Depression, an der in Deutschland 15 Millionen Menschen leiden.
Meine Bücher beschäftigen sich ja sowieso mit Schattenarbeit. Irgendwie müssen die Texte offenbar dahin, wo Tabus sind, es Unbekanntes und Unbenanntes gibt. Dabei geht es ja nicht um die Schatten, das Dunkel an sich, sondern darum, dass es heller wird, sich die Knoten lösen können. In den vergangenen Jahren habe ich immer wieder Menschen in der Psychiatrie besucht. Und egal, ob es nun politische Traumata oder persönliche waren, die diese Menschen bis an diese Orte gebracht hatten, letzten Endes ging es um das Thema Depression.
Wie erklären Sie sich diese Zunahme von Depressionen in unserer Gesellschaft. In Ihrem Vorwort schreiben Sie, dass die Weltgesundheitsorganisation davon ausgeht, dass im Jahr 2020 Depression die zweithäufigste Krankheit sein kann?
Nicht sein kann, sondern leider sein wird. Alles an der Depression ist progressiv. Ein Fünftel der Deutschen leidet an ihr, und die Krankenkassen geben jährlich 30 Milliarden Euro für sie aus. Das ist schon ernst zu nehmen. Natürlich gibt es viele Gründe für eine Depression, aber mich hat besonders die Nahtlinie zwischen Geschichte und persönlichem Schicksal interessiert. Die aktuelle Forschung sagt, dass das Depressionsbarometer in Deutschland deshalb doppelt so hoch ausschlägt als in anderen Industrieländern, weil uns unsere Geschichte noch extrem im Nacken sitzt. Sie ist in unseren Seelen implodiert, das heißt, wir sind noch immer stark mit unerlöster Kollektivschuld befasst. Das bestätigt eine aktuelle Depressionsstudie des Frankfurter-Freud-Instituts, also die Spezifik kumulativer Traumata. Auf diese in dem Sinne Erfahrungswucht schiebt sich die unverstandene Gegenwart mit allen ihren Entwurzelungsprozessen. Das schaffen die Seelen nicht. In dem Sinne erzählt mein Buch vom Kollaps des kollektiven Unbewussten.
Wenn wir in diesem Zusammenhang von Depressionen sprechen, handelt es sich da um eine moderne Krankheit oder gab es Depressionen nicht auch in früheren Jahrhunderten? Hier soll als Stichwort nur die Melancholie genannt werden.
Es ist eine generische Krankheit, die früher Melancholie, vor 100 Jahren Neurasthenie und heute Depression genannt wird. Und es gibt dabei bestimmte Symptome, die sich je nach Gesellschaft auch immer ein wenig verändern. Aber dass die Zahlen in unserer Zeit so rabiat steigen, versuche ich in „Seelenriss“ zu erklären. Man kann es ja auch positiv lesen: Die Seelen streiken. Sie sagen uns Halt, wo wir uns unentwegt beschleunigen. Sie sind mal wieder weiser als unsere Leben.
Wie weit Depressionen einen Menschen treiben können, erfährt die breite Öffentlichkeit oft erst durch den Selbstmord von Prominenten, wie beispielsweise im Fall von Robert Enke oder des Schriftstellers David Foster Wallace, der sich vor zwei Jahren das Leben genommen hat. Endet jede Depression in diesem scheinbar ausweglosen Extrem?
Nein, diese Krankheit ist ungemein disparat, weshalb die Forschung bisher auch erstaunlich vage und diffus ist. Es ist ja schon schwierig zu definieren, was denn überhaupt psychische Gesundheit sein soll. Äußerlich ähneln sich die Depressiven. Sie sind nach innen gerichtet, in ihrem Kosmos, sie halten die Welt außen vor. Da existiert ein großer Trauerraum, eine dunkle Grammatik des Selbst, die alles dominiert. Aber als innerer Prozess hat die Depression etwas Einmaliges. Denn jede Depression entwickelt ihre eigene Kreativität, hat ihr eigenes Gesicht, ihre Dynamik. Das kann in einem Fall milder verlaufen, wo der Betroffene nur ein paar Monate zu tun hat. Oder es wird eine Lebenskrankheit. Mich fasziniert das: So viele Menschen es mit Depressionen gibt, so viele Depressionen gibt es auch. In dieser Krankheit zeigt sich das Einmalige des Selbst.
Was den Umgang mit dieser Krankheit erschwert, ist die Stigmatisierung derjenigen, die sich dazu bekennen.
Absolut, diese Stigmatisierung besteht. Viele Menschen reagieren noch immer mit Abwehr auf Psychisches. Das hat in Deutschland und vor allem in Ostdeutschland eine lange Geschichte. Wenn es heißt, das sei jetzt vielleicht mal eine Geschichte für den Therapeuten, lautet die Reaktion noch immer oft: Was, ich bin doch nicht irre! Ich habe das Buch auch geschrieben, weil in so fragilen Zeiten die Krise der Seele doch eher etwas Gesundes hat, und wir einen selbstverständlicheren Umgang damit nötig haben.
Auf der einen Seite haben wir eine Gesellschaft, in der scheinbar alles öffentlich ist, über alles wird geredet, alle sind im Internet vernetzt, es gibt keine Geheimnisse mehr. Und trotzdem gibt es immer mehr Menschen, die sich allein fühlen, nicht verstanden, diesen scheinbar unendlichen Möglichkeiten mit Sprachlosigkeit gegenüber stehen. Das ist doch paradox?
Ja, die Fragmentierung der Gesellschaft beschleunigt die gegenwärtigen Vereinsamungen noch. Wenn die Depression, dieser innere Schatten, der wie ein Wesen in einem wütet, das ist dann wie eine Gefangenschaft und ein unsäglicher Schmerz, etwas Unentrinnbares. Das Unbegreifliche für uns ist dann der Suizid. Aber ganz eindeutig: Der Depressive will nicht sterben, er hält nur die nächste Stunde in diesem Zustand nicht länger aus.
Tragen wir vielleicht alle eine solchen Schatten in uns?
Der ist lebensnotwendig. Aber schon Sigmund Freud hat den Unterschied zwischen Trauer und Depression gemacht. Wenn der Mensch es nicht schafft, eine Trauer abzuschließen, sei es über den Verlust eines geliebten Menschen oder einer Vorstellung, wie beispielsweise der vom Sinn des Lebens, wenn man also nicht durch den Schmerz hindurchgeht, sondern den Verlust in sich hineinholt, dann fängt die Depression an zu arbeiten und zu wüten.
Das Gespräch führte Dirk Becker
Ines Geipel stellt am heutigen Dienstag, 19.30 Uhr, ihr Buch „Seelenriss. Depression und Leistungsdruck“ in der Kleistschule, Friedrich-Ebert-Straße 17, vor. Der Eintritt kostet 5, ermäßigt 3 Euro
Ines Geipel, 1960 in Dresden geboren, war sechs Jahre lang Hochleistungssportlerin in der DDR und lebt als Schriftstellerin und Professorin an der Hochschule „Ernst Busch“ in Berlin. kip
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: