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Von Dirk Becker: Kunst mit Verfallsdatum

Der Fotograf Leo Seidel lässt die Schlösser in und um Potsdam alt aussehen

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Wer Glück hat ist allein. Kein anderer Besucher, nur die Bilder und genug Zeit. Gelegentlich hört er vielleicht die Galeristin Angelika Euchner leise am Telefon sprechen. Doch das stört nicht. Man hört es nicht mehr, wenn man eingetreten ist in Leo Seidels Potsdam.

Es ist das bekannte Potsdam, dass der 22-jährige Berliner auf seinen Bildern in der Galerie Art Market im Luisenforum zeigt. Das Schloss Sanssouci, das Neue Palais, die Römischen Bäder und das Schloss Babelsberg. Oft wählte Leo Seidel die beliebten Touristen- und Postkartenmotive, als er beispielsweise das Schloss Sanssouci mit seinen Weinterrassen fotografiert hat. Doch ist es gleichzeitig auch ein anderes, ein fremdes, unbekanntes Potsdam, das auf Seidels Bilder zu sehen ist.

„Vielleicht ist das meine romantische Ader, die sich in diesen Bildern zeigt“, sagt Leo Seidel und lacht. Nach kurzem Überlegen fügt er noch hinzu, dass er den Schlössern gerecht werden möchte.

Es sind Sehnsuchtsorte, die Leo Seidel mit seinen Fotografien schafft. Sehnsuchtsorte, über denen das Sepiabraun wie Wehmut liegt. Es sind Orte der Stille und der Einkehr, scheinbar aus einer weit zurückliegenden Vergangenheit. Auf seinen Bildern lässt Leo Seidel die Schlösser in und um Potsdam alt aussehen, und das auf eine wunderschöne Art und Weise.

Zahlreiche dieser Bilder hat Leo Seidel in den vergangenen Jahren gemacht. Sie sind als eine Art Nebenprodukt entstanden. Seidel hatte mit dem ehemaligen Direktor der Schlösserstiftung, Hans-Joachim Giersberg, zusammengearbeitet für das Buch „Preußens Glanz. Königsschlösser in Berlin und Brandenburg“. Stimmungsvolle Hochglanzbilder, die in diesem Bildband zu sehen sind. Farbenfroh, stimmungssatt und auf den ersten Blick so postkartentypisch und idyllisch, dass man sie schnell überblättern könnte. Doch wer genau hinschaut, sieht, dass sie zwar schön, deswegen aber nicht oberflächlich sind.

Auf diesen farbenfrohen Bildern bekennt sich Leo Seidel zum gnadenlosen Romantiker mit dem besonderen Blick und dem Gespür für die besondere Perspektive. Wer in „Preußens Glanz. Königsschlösser in Berlin und Brandenburg“ blättert und dann die aktuelle Ausstellung in der Galerie Art Market besucht, wird feststellen, dass ihm hier aus dem Buch bekannte Perspektiven wiederbegegnen.

Der Blick hoch zum Schloss Babelsberg, der distanziert wirkende, frontale Blick auf das Schloss Charlottenhof, das Innere der Bibliothek in Sanssouci, all das findet sich auch in „Preußens Glanz. Königsschlösser in Berlin und Brandenburg“ in der gleichen Perspektive. Doch die Bilder in der Galerie Art Market sind anders.

Das schon erwähnte Sepiabraun, das jedes der 16 ausgestellten Fotografien überzieht. Schaut man genauer hin, sieht man Flecken, seltsame Muster und Schraffuren, so als hätte Leo Seidel die Bilder in irgendeinem feuchten Keller gefunden, wo sie jahrelang lagerten und entsprechende Spuren davongetragen haben.

Diese wie aus der Zeit gefallenen Bilder macht Leo Seidel mit einer Technik, die ihr Verfallsdatum längst überschritten hat. Polaroid 665. Auf eine Plattenkamera hat Leo Seidel den Polraoidaufsatz für die zehn Bilder pro Päckchen montiert. 8,5 mal 10,5 Zentimeter groß sind diese Polaroid-Bilder, die er nach der Aufnahme aus dem Schieber ziehen muss. „Und während ich das Bild langsam aus dem Schieber ziehe, verteilt sich die Chemie, die das Bild entstehen lässt“, sagt Leo Seidel. Es ist der ähnliche Ansatz nach dem die Sofortbildkameras funktionieren, die Polaroid ab Ende der 1970er Jahre weltweit bekannt gemacht hatten.

Doch vor zwei Jahren wurde die Produktion von Polaroid 665 eingestellt. Leo Seidel arbeitet jetzt mit Restbeständen, deren Haltbarkeit im Jahr 2007 abgelaufen ist. Wie lange er mit seinen Vorräten noch fotografieren kann, weiß er nicht. So lange, wie die Chemie den Prozess der Bildentstehung noch ermöglicht, sagt er. Seidel rechnet noch mit drei bis vier Jahren, die ihm noch bleiben. Erst dann will er sich Gedanken machen, mit welcher Technik er dann weiterarbeiten wird.

Schon jetzt ist jedes neue Bild, das Seidel aus dem Schieber zieht ein Zufallsprodukt. Die Zeit über das Haltbarkeitsdatum hinaus sorgt für eigenwillige Effekte, die Seidel noch verstärken kann. Einfach in dem er die Oberfläche unbehandelt lässt oder zu unterschiedlichen Jahreszeiten fotografiert. Ansonsten verzichtet Seidel auf Nachbearbeitungen. Seine Bilder nennt er Kollagen mit Polaroid, Stillleben, die ihn selbst überraschen. Je intensiver er sich mit dieser Technik, die er während seiner Ausbildung zum Fotodesigner am Lette-Verein Berlin durch einen Mitstudenten entdeckte, beschäftigt hat, umso deutlicher wurde ihm, dass er genauso den Schlössern und ihrer Geschichte gerecht werden können. Bis auf wenige Menschen auf zwei Bildern wirken die Schlösser und Ort wie gerade verlassen. Durch Seidels Blick sind es Orte und Gebäude, die von ihrer Geschichte zwar gezeichnet sind, deren Charme dadurch aber umso deutlicher wird. Es ist nicht neu, was diese Bilder zeigen. Doch indem sie es durch die zahlreichen Effekte anders, fremd und unbekannt erscheinen lassen, ist es, als betrete man Neuland. Wer Glück hat, kann dies ganz allein tun.

Die Ausstellung „Leo Seidel. Fotografie“ ist noch bis zum 10. August, jeweils mittwochs und freitags, 15 bis 19 Uhr und samstags, 12 bis 16 Uhr, in der Galerie Art Market, Luisenforum, zu sehen

Dirk Becker

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