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Kultur: Märchen am Abgrund

„Nightmare before Valentine“ mit „Lilo“s Lido“ auf dem Theaterschiff

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Der Lido: ein Amüsierviertel in Venedig. Mondäne Hotels, teure Restaurants, graues Meer. Spätestens seit Thomas Mann dort seine Erzählung „Tod in Venedig“ ansiedelte, bekam es diesen dürren, melancholischen Beigeschmack. Seitdem denkt man bei „Lido“ an eine vielschichtige, schwer zuzuordnende Mischung aus Amüsement und Abriss. Vergnügen, gebrochen durch Verfall.

Wenn die Tanzkompanie „Nightmare before Valentine“ ihr erstes gemeinsames Stück nun „Lilo“s Lido“ nennt, verspricht der Name Ambivalenz. Dabei ist der Titel eigentlich eher spontan entstanden, erzählt die Tänzerin Andriana Seecker. Inspiriert durch ein Foto. Schon seit langer Zeit hängt bei ihr zu Hause dieses Schwarz-Weiß-Bild. Ein halb zerfallenes Theater, irgendwo in Frankreich. Inmitten der Ruine prankt ein altes Plakat, auf dem steht in grellen Buchstaben: „Lido“. Diese seltsame Mischung, das melancholische Zusammen von Vergangenem und Gegenwärtigem, darum gehe es unter anderem auch in ihrem Stück. „Um Erinnerung, also um das, was einmal war. Aber auch um das, was sein könnte.“ Tanz als utopischer Ort, an dem Fragmente des Erlebten und Zukunftsfetzen verschmolzen werden können. Als die Kunst, den öde chronologischen Zeitläuften ein Schnippchen zu schlagen.

Das zeitliche Nebeneinander, das spielerische Überlappen verschiedener Gegenwarten sind Andriana Seecker, Birgitt Bodinghauer und Christin Maaß wichtig – mehr als verkopfte Traktate oder gar feministische Inhalte. Und die „Lilo“ im Titel? Dass da ein Frauenname vorkommt, ist bei dem weiblichen Ensemble zwar kein Zufall, aber um Frau-Sein geht es ihnen nur am Rande. Zudem hat sich das Dreigespann für „Lilo“s Lido“ nicht nur drei weitere Tänzerinnen dazugeholt, sondern auch einen Mann, einen Schauspieler. Inszenatorisch soll er eine Gegen- oder Parallelwelt zu der der Frauen sein. Ja, es geht um Gegensätze, sagt Christin. „Aber nicht nur um die zwischen den Geschlechtern. Wir wollen auf keinen Fall die übliche Mann-Frau Geschichte“. Dass Tanztheater sich oft nur darum dreht, stört sie. Begegnungen wollen sie diffiziler zeigen.

So könne die Lilo im Titel letztlich eigentlich jeder sein, ergänzt Andriana. „Der Tisch auf der Bühne, von dem unsere Choreographie ausgeht, die Stühle, oder auch die Zuschauer.“ Diese unmittelbare Nähe zum Publikum ist der Gruppe wichtiger als eine geradlinige Erzählung. Vor allem sollen die Zuschauer einbezogen, angespielt, berührt werden. Daher auch die Entscheidung, das Theaterschiff nicht nur auf der Bühne zu betanzen, sondern im gesamten Raum. An den Zuschauern vorbei, zwischen ihnen hindurch. „Am schönsten wäre es, die Zuschauer hätten das Gefühl, wirklich dabei gewesen zu sein.“ Andriana Seecker, Birgitt Bodinghauer und Christin Maaß lernten sich an der Berliner Tanzakademie „Balance 1“ kennen, tanzten schon während der Ausbildung zusammen, mochten einander und entschieden sich, nach ihrem Abschluss ein unabhängiges Projekt zu starten. Über Andriana, die einzige Potsdamerin der drei, kam der Kontakt zum Theaterschiff zustande. Das war im Dezember.

Als man ihnen den 13. Februar als Termin anbot, schien das nah, angesichts der wenigen Probenzeit fast beängstigend nah. Und weil die Premiere zufällig auf den Vorabend vom Valentinstag fällt und nicht nur das Stück, sondern auch die Kompanie einen Namen brauchte, nannten sie sich „Nightmare before Valentine“.

Die drei lachen, als sie das erzählen. Mit einem Alptraum hat ihre Produktion – mit viel Musik von Cat Power bis Vanilla Ice – wenig zu tun. Der Name ist keine Drohung, eher ein ironischer Frontalangriff auf das eigene Premierenfieber. Obwohl alle drei noch unter dreißig sind, ist der Tanz für jede von ihnen schon eine Art zweites Leben. Im ersten, im Leben vor der Tanzakademie, war Andriana Bühnenbildstudentin in Berlin, Birgitt Kulturanthropologin in Wien und Christin Studentin der Tanzpädagogik in Hamburg. Alle haben früh mit dem Tanzen begonnen, mussten sich aber erst gegen die verschiedenen Widrigkeiten einer von Normen geprägten Umwelt durchsetzen – gegen hartnäckige Elternwünsche oder realitätsferne Idealmaße der staatlichen Ballettschulen. Jetzt tun sie das, was sie eigentlich wollen. Tanzen und choreographieren. „Endlich meine eigenen Sachen machen“, wie Christin sagt. „Zur Not auch unbezahlt.“

Kunst ist für die drei nicht Lebensunterhalt, sondern Lebensmittel: Ohne geht es nicht, aber allein damit auch nicht. Noch. Daher studiert Christin derzeit nebenbei Skandinavistik, jobbt Andriana in einem Laden und Birgitt als persönliche Assistentin. Wie sie ihren Tanz beschreiben würden? Sie zögern. „Mit einem Bein im Märchen, mit dem anderen am Abgrund“, sagt Andriana dann. Wie das Foto in ihrem Zimmer. Wie der Lido, die melancholische Vergnügungsmeile am Meer.

Lena Schneider

Premiere von „Lilo“s Lido“ ist am 13.2. um 20 Uhr auf dem Theaterschiff.

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