Kultur: Mütter und ihre Kinder
Viele Filme des 35. Studentenfilmfestivals „Sehsüchte“ der HFF kreisten um das Thema Familie
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Die Familie ist tot – es lebe die Familie! So könnte es vielleicht lauten, das Fazit des diesjährigen Potsdamer Studentenfilmfestivals „Sehsüchte“, das am Sonntag im Thalia-Kino zu Ende gegangen ist. Die Familie, sie war in vielen der gezeigten 159 Filme allgegenwärtig. Zumindest ein Echo von dem, was Familie ausmacht. Mit all seinen Konsequenzen.
Der Preis für den besten Spielfilm ging in diesem Jahr an den schwedischen Film „Slå tillbaka“ („Strike back“) von Jonas Embring. Gegen ihren Willen zieht Madde mit ihrer Mutter zu deren neuen Freund. Sie ist vielleicht gerade mal 15, ihr neuer „Vater“ an die 50. Björn erzählt ihr davon, dass er auch mal jung und hübsch war, dass sie nun eine Familie sind, dass er seine neue Tochter genauer kennen lernen will, dass er sie dazu nackt sehen will. Hemmungslos grapscht er an ihr herum, kommt nachts in ihr Zimmer, fotografiert ihren entblößten Körper. Niemand glaubt Madde von dem Missbrauch, weder die Mutter noch ihr eigener Freund. Bis es dem Mädchen zu viel wird. Am Ende ist es Björn, der entblößt vor allen da steht, wenn auch nur im übertragen Sinne. Er meint, er könne es erklären. „Dann erkläre es“, sagt Madde, und sie lassen ihn mit seiner Schande stehen.
Zu Anfang des Festivals hatte die Spielfilmjury geäußert, dass es nicht ausreiche, seine eigene Kindheit in einem Studentenfilm aufzuarbeiten. Mit ihrer Wahl ist sie diesem Anspruch gerecht geworden, „Strike back“ führt konsequent aus den Kindertagen in die heutige Gesellschaft, scheut dabei auch nicht moderne Video-Clip-Ästhetik und TV-Format. Der halbstündige Film wirkt sehr fertig, ein erster Schritt zum abendfüllenden Film. „Ohne in Melodramatik oder Klischeehaftigkeit zu verfallen, wird das Thema Missbrauch in der Familie behandelt“, so die Jury in ihrer Begründung. Die Hilflosigkeit des Mädchens übertrage sich direkt auf den Zuschauer, die schrecklichsten Bilder würden nicht direkt gezeigt, sondern im Kopf entstehen.
Mütter und ihre Kinder – wie ein roter Faden zieht sich diese Beziehung durch die Festival-Beiträge. So auch beim Preisträger der Sektion Dokumentarfilm. „Kinder der Schlafviertel“ von Jana Ji Wonders und Korinna Kraus (HFF München), der eine Punkband in einer Trabantenstadt Moskaus porträtiert. Auch hier der Dialog zwischen dem Sohn und der Mutter, die Mutter, die immer etwas aus ihm machen wollte, und der Sohn der sich verweigert. Von einem Vater ist erst gar nicht die Rede. Wie etwa auch in den Beiträgen „4+“ und „Myaso“ („Fleisch“) die im Fokus Russland zu sehen waren. Die Väter sind abwesend, die Mütter streng und distanziert – den Jungen fehlt Liebe und Geborgenheit. Die Mütter verbergen vor ihren Söhnen die Wahrheit, in „Fleisch“ kommt der Sohn dann selbst darauf, wie seine Mutter die wöchentliche Ration Fleisch bezahlen muss.
Klassisch in Schwarzweiß, die Kameraeinstellungen traditionell lange, die Gespräche stockend wenn überhaupt vorhanden – der russische Studentenfilm hebt sich stark von seinem westeuropäischen Pendant ab. So auch der Preisträger des Fokus-Dialog-Preises „Dvier“ („Tür“ von Vladimir Kott), eine hübsche kleine Parabel voll mit Symbolik, heruntergekommenen Stadtvierteln und russischem Gemüt. Wenn man dem nun den Schnittpreisträger „Floh!“ von Cécile Welter (Schweiz) entgegenstellt, so ist dieser amüsante Kurzfilm über eine Leihmutter auf Abwegen sehr fertig, schon fast auf marktgängigem TV-Niveau. Doch, wie merkte Filmkritiker Jörg Buttgereit im Cineastischen Quintett der „Sehsüchten“ an: „Es ist langweilig wenn alles flutscht, Studenten sollten sich noch ausprobieren“. Die Zuschauer entschieden sich dann auch für einen eher skurrilen, nicht so glatten Dokumentarfilm von der Potsdamer HFF: „Kohle, Dosen und schwarze Löcher“ von Jakub Bejnarowicz und Agnieszka Gomulka erhielt den Publikumspreis.
Wichtig war dem studentischen Festivalteam vor dem Hintergrund des rassistischen Angriffs in Potsdam diesmal der Preis gegen Ausgrenzung. Er ging an das „Fest der Liebe“ von Rexi Tom Weller und Ruben Malchow (Köln), eine köstliche Parodie auf Leni Riefenstahls „Fest der Schönheit“. Das NS-Ideal der „gesunden, arischen Körper“ wird hier ad absurdum geführt, die olympische Fackel wird von schmerbäuchigen Faulenzern, bärtigen Zauseln, dürren Transvestiten und einem Zwergwüchsigen getragen, am Schluss landet das Licht wie eine überflüssige Requisite im Wasser. Auch ein Angriff auf den Körperkult der heutigen Fit-for-Fun-Generation, so die Filmemacher. Man wolle die Frage aufwerfen, ob es auch einen Eros jenseits der Norm gibt.
Die „Sehsüchte“ indes verliefen in gewohnten Bahnen. Die ersten beiden Festivaltage gehörten zumindest tagsüber mehr den Filmleuten und Studenten. Zum Wochenende füllte es sich dann wieder beängstigend, Freitagabend etwa war zu Stoßzeiten kaum von einem Kino zum anderen zu kommen, geschweige denn auf die Toilette. Auch diesmal kamen laut Team wieder rund 10 000 Besucher in fünf Tagen, das Festival hat seien festen Platz in der Region. Allerdings wünscht sich HFF-Präsident Dieter Wiedemann schon seit Jahren das Filmfest zurück auf das Studiogelände Babelsberg. Und in diesem Jahr sollen die Studierenden sogar tatsächlich mit einem Zeltkino in der Filmstadt geliebäugelt haben.
Eine lustige Idee, doch vielleicht sollte man auch bedenken, dass sich das Thalia als Festival-Kino gut eingespielt hat und angenommen wird. Wo sonst kann man direkt aus der Straßenbahn oder S-Bahn ins Kino fallen? Die Cafés und Imbisse rund um das Kino werden alljährlich zum Treffpunkt der Filmszene. Und hier ist man auch dichter am Leben als in der Kunstwelt der Filmstadt. So reagiert dann auch schon mal ein Filmemacher konsterniert über den aggressiven Tonfall eines jungen Mannes gegenüber dem Döner-Verkäufer. Der nahm es gelassen. Und wir sind wieder am Anfang: Bei der Familie, den Müttern und ihren einsamen Söhnen. Wie sagt doch der russische Punk zu seiner Mutter: „Ich mache Musik zum Saufen und Köpfe einschlagen“.
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