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Das ist die Potsdamerin Regine Rüss, in der Otto-Nuschke-Straße (heute: Lindenstraße), die 1986 in unmittelbarer Nachbarschaft zum Stasiknast lebte.

© privat

„Nie werde ich vergessen, wie entsetzt ich war“: Wie Regine Rüss die Nachbarschaft zum Stasiknast in Potsdam erlebte

Fast täglich schob Regine Rüss in den 1980ern den Kinderwagen an der heutigen Gedenkstätte vorbei. Im Januar 1990 betrat sie das ehemalige Gefängnis erstmals – der Besuch hinterließ bei ihr einen bleibenden Eindruck.

Von Regine Rüss

Stand:

Die ersten Erinnerungen an das Haus habe ich ab 1984. Da bog ich oft in die Otto-Nuschke-Straße ein und ging mit sehr unangenehmen Gefühlen am „Stasiknast“ vorbei. Für mich war es immer „der Stasiknast“. Ich nannte es nie „Lindenhotel“, schon gar nicht „Untersuchungsgefängnis“. Selbst kannte ich niemanden, der dort eingesessen hatte. In meinem Freundeskreis wurde aber darüber geredet, was dort geschieht.

Die Häuser der Straße waren damals alle grau, verfallen und teilweise leergezogen. Wir lebten in Nachbarschaft zum Stasiknast und wussten uns mit unserer Herkunft und Einstellung in der DDR beobachtet. Man hatte sich daran gewöhnt, in Bildern zu sprechen, las zwischen den Zeilen, sang: „Die Gedanken sind frei …“.

Regine Rüss (vorne rechts) in der Potsdamer Gedenkstätte Lindenstraße. Foto: Hagen Immel

© Hagen Immel

Wir waren jung und in kirchlichen oder Künstlerkreisen der Stadt fanden wir Gleichgesinnte. Offene, nicht gardinenverhangene Fenster waren zu DDR-Zeit ungewöhnlich. Unsere Mitarbeiter konnten durch die Schaufenster unserer Buchbinderwerkstatt regelmäßig die Stasimitarbeiter vorbeigehen sehen, wenn sie vom Gefängnis kommend die Kantine der MfS-Zentrale in der Hegelallee aufsuchten: Die Stasi ging essen.

Fast täglich schob ich damals mit dem Kinderwagen am Knast vorbei. Es gab Kameras und eine Kette als Absperrung des Gehwegs vor dem Haus. Manchmal sah ich einen Schwarm Tauben über unseren Dächern Kreise ziehen und stellte mir vor, dass sie in den Gefängnishof sehen und Häftlinge in diesem Moment in den Himmel blicken – mit den Vögeln als Freiheitssymbol.

„Es war unglaublich bedrückend, dies mitten in der Innenstadt zu erleben.“

Dann kam im November 1989 das wohl einschneidendste Erlebnis unseres bisherigen Lebens – die Maueröffnung. Anfang Dezember wurde dann die Potsdamer Stasizentrale in der Hegelallee gestürmt, danach das „Lindenhotel“. Mein Mann war bei beiden Aktionen dabei. Ich ging das erste Mal im Januar 1990 in das einstige Gefängnis. Nie werde ich vergessen, wie entsetzt ich war. So schlimm hatte ich es mir nicht vorgestellt. Es war unglaublich bedrückend, dies so mitten in der Innenstadt Potsdams zu erleben.

In den Jahren danach änderte sich alles in rasender Geschwindigkeit. Das Gebäude ging an die Stadt zurück. Jede Menge neue, noch ungewohnte Demokratie breitete sich aus und es gab enorme Aufarbeitungs-, Abstimmungs- und Gründungsarbeit.

Das Haus wurde zur Gedenkstätte, der Gefängnistrakt erhalten! Wie gut! Über die 30 Jahre nach der Wende hat sich die Gedenkstätte mit ihrer Arbeit fest etabliert. Immer wieder gab und gibt es gut fundierte Aufarbeitung zur Geschichte des Hauses und darüber hinaus: Wie zuletzt die Ausstellung zur Zwangsarbeit in Potsdam zwischen 1940 und 1945.

Jetzt laufe ich mit meinem Enkel am Gebäude vorbei. Es gibt keine abweisende Kette mehr, die Außenfassade ist renoviert und lässt nicht vermuten, wie der Innenhof aussieht. Oft stehen Gruppen davor und bekommen eine Einstimmung auf den Gedenkstättenbesuch. Ins Gehwegpflaster sind Schriftbänder eingelassen, die in Schritten an den Ort heranführen.

Die Lindenstraße ist gegenwärtig bunt und international belebt. Wenn heute wieder ein Schwarm Tauben über der Innenstadt seine Kreise zieht, erinnere ich mich und wünsche mir: Möge dieses Gebäude nie wieder ein Gefängnis werden. Ich wünsche mir, dass es mit personeller und finanzieller Unterstützung eine Gedenk- und Bildungsstätte im Wandel der Zeiten bleiben kann. Dank an Maria Schultz, die es in ihrer Leitungszeit geschafft hat, Ausstellungen und Veranstaltungen wieder mehr in die Stadt und Nachbarschaft zu tragen.

Der Text ist ein Auszug aus der Broschüre „30 Blickwinkel auf 30 Jahre Gedenkstätte Lindenstraße“, die anlässlich des Geburtstages der Gedenkstätte veröffentlicht wurde.

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