Kultur: Raus aus der Nische
Potsdam Jazzfestival mit einem Mix vor dem Brandenburger Tor und mit Tom Gaebel im Nikolaisaal
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Einmal im Jahr tritt der Jazz aus seiner kleinen Nische und erobert eine Woche lang die großen Bühnen Potsdams. Zeit für das Potsdamer Jazz Festival, dessen Auftakt auch in diesem Jahr ein mehrstündiges Programm am Brandenburger Tor ist. Der Kühle des Tages zum Trotz sind die Tische auf dem Platz immer gut gefüllt. Ein ständiges Kommen und Gehen sichert jeder Band genügend Applaus-Geber und gute Stimmung.
Mit Big Band-Tönen des Landesjugend Jazzorchesters Brandenburg wird die Nachmittagsluft in einen vollmundig-schweren Ohrenschmaus verwandelt. Das Orchester vereint Jazz-Standards und arrangierte Versionen moderner Songs zu einem gefälligen Mix. Selbst ausgelutschten Evergreens wie „Greensleeve“ vermag das Orchester eine Frischzellenkur zu verpassen und in swingendes Feingold zu verwandeln – im Falle der Big Band vielleicht eher zu satten Goldbarren.
Im Gegensatz zum dichten Gedränge des Orchesters wirkt das Angelo Lazzeri Trio geradezu verloren auf der Bühne. Die Band ist aus dem italienischen Perugia, einer Partnerstadt Potsdams, und wurde extra fürs Konzert eingeflogen. Die Musiker schlafwandeln sich in ihren Kompositionen durch sanft-tönende Ebenen des Akustik- und Smooth-Jazz.
Aus einer weiteren Partnerstadt Potsdams ist das Lumi Quartett angereist. Vier blutjunge Musiker aus Jyväskylä, die leichtfüßig und selbstbewusst eigene Kompositionen und adaptierte Volkslieder ihrer Heimat mit finnischen Texten auf die Bühne bringen.
Schwerer ist es die Wiege der Band Ostwind ausfindig zu machen: die Mitglieder kommen aus Japan, den USA, Russland und Griechenland und vertreten beim Jazz Festival die experimentelle Seite dieser Musik. Denn: „Es soll nicht nur Musik zum Schunkeln sein“, wie Jürgen Börner, der Mit-Organisator des Festivals, sagt. Die Bands seien nicht immer auf Konsens ausgelegt, sondern dürften auch ruhig mal die Grenzbereiche des Jazz erkunden. Just dort fühlen sich Ostwind zu Hause und ihre Songs sind Hymnen auf ort- und zeitlosen Polyglott-Jazz. Dabei kann das Publikum auch ruhig mal ein paar Minuten Free Jazz vertragen. Nur ein paar Kleinkinder am Bühnenrand scheinen verwirrt, dass das Gequietsche und Gescheppere der Erwachsenen auf der Bühne mit lautstarkem Applaus belohnt wird.
War der Tag eher geprägt von einem Laufpublikum, vereint Pascal von Wroblewsky als Abschluss Alt und Jung und der Platz vor dem Brandenburger Tor füllt sich ordentlich. Die charismatische Sängerin hat drei Musiker und ihr neues Programm „Nu Standards“ im Gepäck. Ganz diktatorisch deklariert sie Songs zu neuen Standards des Jazz, bei denen man erst einmal nicht denken würde, dass sie in einer Jazz-Adaption funktionieren. 30 Jahre geht Wroblewsky zurück und nimmt sich der 70er in ihrer einzigartigen Art und Weise an. Emerson, Lake & Palmer“s „Lucky Man“ wird genauso neu und schick eingekleidet wie „Riders on the Storm“ von The Doors. Die verstaubten Oldies werden auseinandergenommen und mit dem handwerklich-kreativen Geschick der Musiker wieder mit frisch polierten Teilen zusammengesetzt.
Langanhaltender Beifall bestätigt den Eindruck des Tages: der Jazz kann sich in Potsdam zeigen lassen und ist immer gern gesehener Gast. Christoph Henkel
Was für eine Lüge! „Never ever felt so good with you.“ Nie und nimmer habe er sich so gut gefühlt, als er noch mit ihr zusammen war, singt Tom Gaebel im Nikolaissaal mit Inbrunst und der geballten Kraft seiner Big Band im Rücken. Dieses Lied gelingt ihm zur Großabrechnung mit der Ex-Dame seines Herzens. Obwohl jeder im fast ausverkauften Saal wissen wird, dass es sehr wohl diese ganz besonderen, einmaligen Stunden mit ihr gegeben haben muss, denn sonst wäre der Herzschmerz nicht so stark und langanhaltend gewesen. Sonst hätte es nicht eines solchen Liedes gebraucht, das neben Großabrechnung auch Befreiungsschlag aus dem eigenen Gefühlschaos ist: In der Haut der Ex möchte hier niemand stecken. Verkehrte Verhältnisse am Samstag im Nikolaissaal. Denn wer hätte gedacht, dass eines der ersten Konzerte des diesjährigen Potsdamer Jazz Festivals gleich zu einem Höhepunkt wird? Irgendwie überwiegt noch immer die Vorstellung, solche Knaller gehören ans Ende. Und wer hätte gedacht, dass ausgerechnet ein 32-Jähriger aus Gelsenkirchen den Swing a la Frank Sinatra und Dean Martin derart zum Pulsieren bringen kann, dass man am liebsten die ganze Nacht mit Herrn Tom Gaebel und seiner Big Band durchgemacht hätte? Rein musikalisch natürlich.
Es brauchte nicht viel, um zu erkennen, was dieser Abend bieten würde. Die zehn Musiker der Band mit ausgesprochen jungem Altersdurchschnitt kommen auf die Bühne und starten mit Ahlerts „That“s Entertainment“. Und schon die ersten Töne lassen einen spüren, dass da vorn auf der Bühne etwas gekocht wird, dass nie und nimmer der harm- und zahnlose Swing ist, wie man ihn von so vielen Big Bands kennt, die mit Lautstärke kaschieren, was ihnen an Lässigkeit und Gefühl fehlt. Was diese Big Band spielt, ist das ganz kreuzgefährliche Zeug, das direkt in die Glieder fährt und unerhört viele Glückshormone freisetzt, so dass man schon nach kurzer Zeit zwanghaft grinsen muss. Es folgt die Ankündigung des Sängers, der der Größte, Intelligenteste und was-nicht-alles ist. Gut, das gehört zur Show. Und dann tritt er auf: Tom Gaebel, breit über das ganze Gesicht grinsend und mit einer Haltung, die vor Selbstbewusstsein und guter Laune nur so strotzt. Es folgt „Never ever“, die schon erwähnte Großabrechnung mit der Ex, und man erwischt sich dabei, wie man still in sich hineinmurmelt: Danke Dir, unbekannter Posaunist, dem wir das hier zu verdanken haben.
Tom Gaebel studierte in Amsterdam Posaune und Schlagzeug und lebte dort mit zwei Studenten, beide ebenfalls Posaunisten, in einer WG. Einer hörte Gaebel beim Singen unter der Dusche. Er bat Tom Gaebel nicht darum, wie sonst üblich in derartigen Fällen, in Zukunft auf dieses Gesinge mit Rücksicht auf sein persönliches Wohlbefinden zu verzichten. Er empfahl unverzüglich Gesangsunterricht. Für Gaebel der entscheidende Hinweis. Er wechselte das Fach und studierte Jazzgesang, tourte mit der holländischen Big Band The Young Sinatras, bis er sich 2004 mit seiner eigenen Band auf die Bühne wagte. Von Anfang an hat Tom Gaebel dabei neben den Swing-Klassikern auch Eigenkompositionen gesungen. Und dass die den Großen der Swing-Zunft in nichts nachstehen, bewies das Konzert in Potsdam.
„My Song to you“ oder „Catch me if you can“ stehen sicher neben Klassikern wie „Fly me to the moon“ oder „Ain“t that a kick in the head“. Gaebels Stimme erinnert stark an die von Sinatra. Doch Gaebel versucht erst gar nicht, durch bis zur Unkenntlichkeit veränderte Arrangements beispielsweise, sich vom großen Vorbild abzugrenzen. Ihm gelingt das, in dem er einfach singt, dabei wie Sinatra klingt und, so paradox sich das auch anhört, trotzdem ganz Tom Gaebel ist. Das hat natürlich auch mit seinem wunderbar dreisten Auftreten zu tun. Tom Gaebel ist Entertainer durch und durch, der mit wenigen Worten sein Publikum in der Hand hat und dann noch mit seiner Stimme und seiner Band eins draufsetzt. Er singt tatsächlich das Lied von der „Biene Maja“ mit dem unverkennbaren Karel-Gott-Akzent, die Musiker swingen wie von Sinnen und der Saal tobt.
Oder das so bekannte und so oft verunstaltete „Mack The Knife“. Da wird ganz großes Theater geliefert und nur mit größter Disziplin kann man sich bremsen, um nicht „Halleluja“ zu schreien. Tom Gaebel hat Stimme. Doch das ist nicht alles. Er hat auch das richtige Gespür für das gesunde Maß an Ernsthaftigkeit, Respektlosigkeit und Humor, mit dem man sich dem Erbe des Swings nähern muss, um daraus etwas eigenes zu machen. Tom Gaebel wird sehr oft mit den Herren Roger Cicero, Michael Bublé und Robbie Williams verglichen, die sich ebenfalls dem Swing der Big Bands verpflichtet fühlen. Aber mit Verlaub, derartige Vergleiche haben ab heute zu unterbleiben. Denn Tom Gaebel und seine Big Band spielen in einer ganz anderen Liga.
Dirk Becker
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