
© Jan Kopetzky
Schauspielerin Claudia Wenzel im Interview: „Viele Menschen entschuldigen sich dafür, dass sie sich vorher so wenig für den Osten interessiert haben“
Die Schauspielerin, die am 9. November in Potsdam auftritt, setzt sich mit deutsch-deutscher Geschichte auseinander. Hier spricht sie über ihren ersten Westbesuch und Wende-Versäumnisse.
Stand:
Frau Wenzel, Sie haben vergangenes Jahr Ihre Autobiografie als Wendegeschichte veröffentlicht. Warum wollten Sie Ihre persönliche Geschichte teilen?
Seit dem 25. Jahrestag des Mauerfalls gehe ich in Schulklassen, weil ich viel mit jungen Leuten zu tun hatte, die nichts über den Osten wussten. Ich habe mich als Schauspielerin immer politisch engagiert und in der Rolle gefühlt, meine Prominenz dafür zu nutzen. 2023 kam der Verlag Droemer Knaur für eine Biografie auf mich zu. Es ist dann eine politische geworden. Ich merke an der Resonanz in Ost und West, wie wichtig das Thema für viele Menschen ist.
Wie reagieren die Menschen auf Ihr Buch?
Bis jetzt nur positiv. Ich lese besonders gern in den alten Bundesländern. Dort kommen viele Menschen auf mich zu und entschuldigen sich dafür, dass sie sich vorher so wenig für den Osten interessiert haben. Es kommen natürlich auch knallharte Fragen, die ich versuche zu beantworten: Warum der Osten so stark die AfD wählt, warum die Leute dort aus Protest wählen.
Sie sind in Sachsen-Anhalt geboren. Ein Jahr vor der Landtagswahl hat die AfD in einer Umfrage dort gerade einen Rekordwert von knapp 40 Prozent erreicht.
Ich produziere und moderiere in meiner Heimatstadt einen Wittenberg-Talk. Dort bin ich mit vielen Menschen im Gespräch. Natürlich diskutiere ich mit ihnen auch darüber, dass man eine Partei mit rechtsextremistischem Hintergrund nicht wählen sollte. Aber ich höre mir an, was die Leute sagen.
Und was ist das?
Die Argumente sind dieselben, wie die, die ich in Kaiserslautern höre. Da würden auch 30 Prozent die AfD wählen. Die Leute haben mir gesagt, die SPD hat uns enttäuscht: Unsere Arbeitsplätze fallen weg, die Viertel sind übervölkert, dort funktioniert nichts mehr. Manchmal sind die Gründe ähnlich, manchmal unterschiedlich, aber zum Schluss kommt eigentlich immer raus, dass sie von den etablierten Parteien enttäuscht sind.
Glauben Sie, es wurde zu wenig geredet?
Auf jeden Fall. Vielleicht waren wir nach der Wiedervereinigung im Osten ein bisschen zurückhaltend und haben uns bei manchem überrennen lassen. Ich glaube, dass wir das leider immer noch mit uns rumschleppen. Die Aufarbeitung hat in den letzten Jahren angefangen, aber nicht konsequent genug.
Es kann nicht sein, dass die Menschen in Ostdeutschland immer noch weniger Geld verdienen, in den Führungsetagen nur zwölf Prozent Ostdeutsche sitzen und viele Künstler wie mein Bruder (der Liedermacher Hans-Eckardt Wenzel, Anm. d. Red.) immer noch als „ostdeutscher Liederpoet“ bezeichnet werden. Was soll das? Wir sagen doch auch nicht „der westdeutsche Konstantin Wecker“.
Sie haben 30 Jahre im Sozialismus gelebt und 35 im Kapitalismus. In Ihrem Buch schreiben Sie, Sie seien froh, beide Gesellschaftssysteme kennengelernt zu haben. Was schätzen Sie jeweils am meisten?
Heute die Demokratie, in der ich lebe. Man hat so viele Möglichkeiten in diesem Land. Im Sozialismus habe ich einfach eine sehr schöne Kindheit gehabt. Ich konnte ein Studium absolvieren, obwohl ich aus einer kinderreichen Familie komme – im Kapitalismus hätten meine Eltern die Finanzen gar nicht gehabt. Die Solidarität der Menschen untereinander, natürlich auch aufgrund der Mangelgesellschaft und der Diktatur. Das egoistische Denken nach der Wiedervereinigung war eine neue Erfahrung – auch Teil eines Systems.
Sie beschreiben in Ihrem Buch, dass Sie einiges, was Sie als Kind als bereichernd empfunden haben, rückblickend kritisch einordnen müssen. Gab es einen Moment, in dem Sie einen neuen Blick auf Ihr Land entwickelt haben?
Mehrere. Wir waren eine getrennte Familie: Als Kinder haben wir uns manchmal gefragt, warum wir nicht zur Oma nach Bayern dürfen. Mein Vater konnte nicht mal zu ihrer Beerdigung fahren. Was für ein unmenschliches System!
Der absolute Knick kam nach meiner ersten Gastspielreise in die BRD, da war ich Anfang 20. Die Grenzanlage mit dem Todesstreifen überqueren und dann im „untergehenden Kapitalismus“ ankommen, wie es in der Schule hieß. Das war eine prägende Erfahrung. Dann der „goldene“ Westen: Alles war ganz bunt, sauber, die Menschen freundlich! Als ich zurückgefahren bin, hatte ich das Gefühl, ich bin wirklich eingesperrt in meinem Land.
Wie war der Mauerfall für Sie, als er dann da war?
Unendlich euphorisch. An dem Tag habe ich in Leipzig Theater gespielt. Wir haben bis früh morgens im Technikraum Fernsehen geguckt, gejubelt und getrunken. Am nächsten Tag bin ich sofort zum Polizeirevier gegangen, um mir den Ausreisestempel abzuholen. Ich dachte: Okay, das ist eine tolle Chance! Das Land kommt wieder zusammen und jetzt gucken wir mal, wie es läuft und wie wir uns gemeinsam einbringen können.
Haben sich Ihre Erwartungen erfüllt?
Sie sind übertroffen worden. Ich konnte nochmal eine gesamtdeutsche Schauspielerkarriere machen, habe viel im Ausland gedreht und bei Produktionen mitwirken können, die in der DDR nicht möglich gewesen wären. Und ich bin mit meinem Mann zusammengekommen, der die DDR mit einem Ausreiseantrag verlassen hatte.
Was denken Sie, ist nach dem Mauerfall am meisten schiefgelaufen?
Ich glaube, dass dieses Einbringen der Ostdeutschen zu wenig in Betracht gezogen wurde. Es hieß nur: „Alles, was ihr gemacht habt, war falsch. Wir zeigen euch jetzt mal, wo es langgeht.“ Das war ein Riesenfehler. Lebensleistungen von Menschen wurden nicht anerkannt. Bestimmte Dinge hätte man durchaus übernehmen können: Kitas, Polikliniken. Das macht man ja heute! Bürger aus den alten Bundesländern übernahmen Führungspositionen im Osten. Wir Ostdeutschen waren verunsichert und damals nicht selbstbewusst genug.
Haben Sie das Gefühl, dass die hohen AfD-Werte auch Nachwehen von diesem Prozess sind?
Auf jeden Fall. Ich habe mal in Chemnitz ein paar knallharte Rechte getroffen und wollte wissen, warum sie sich radikalisiert haben. Keine Entschuldigung, aber eine Erklärung: Die Wiedervereinigung kam, als sie in der ersten Klasse waren. Von einem Tag auf den anderen waren sie keine Pioniere mehr, dann wurde die Mutter arbeitslos. Ein halbes Jahr später auch der Vater. Beide fingen an zu trinken und schimpften nur noch auf den Westen. Diese zweite Generation hat das hautnah mitbekommen. Und dann macht die jetzige Regierung wieder riesige Fehler zum 35. Jahrestag: Du kannst keine große Veranstaltung machen und bei drei Festrednern ist kein einziger Ostdeutscher dabei! Das regt mich heute noch auf.
Was wünschen Sie sich für den zukünftigen Umgang mit deutsch-deutscher Geschichte?
Auf jeden Fall muss Geschichte auch nach 1945 in der Schule unterrichtet werden, um Schlüsse daraus ziehen zu können. Wir sollten uns auch viel mehr daran erinnern, wie wir diesen herrlichen Novembertag erlebt haben. Oder uns von Leuten beschreiben lassen, was das für ein Glücksmoment war.
Welcher dieser Momente, von denen Sie erfahren haben, hat Sie am meisten berührt?
Mir hat gerade jemand geschrieben, dass er dreieinhalb Jahre alt war, als die Mauer geöffnet wurde. Er ist ein paar Tage später mit seiner Oma nach West-Berlin gefahren. Da hat er sich ein Matchbox-Auto ausgesucht und geweint, weil er noch nie so viele Autos gesehen hatte. Es steht immer noch auf seinem Schreibtisch. Das sind so Geschichten, die wir uns immer wieder erzählen müssen. Wenn man mitbekommt, da ist jemand aus dem Westen oder umgekehrt aus dem Osten, dann redet doch miteinander! Ich glaube, über Gespräche passiert ganz viel.
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