Kultur: Skurrile Zeiten
Die vier Lottopreisträger erzählen Geschichten von realer und fiktiver Vergangenheit
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Geschichten aus der Geschichte, erzählt in Fotografie und Prosa, hat die Lotto Stiftung Brandenburg mit dem diesjährigen Kunstpreis ausgezeichnet. Zwei Literaten, Michael Wildenhain und Jakob Nolte, sowie die Fotografen Veronica Losantos und Sven Gatter, hat die Jury prämiert. Insgesamt 20 000 Euro Preisgeld teilen die vier Gewinner unter sich auf.
Sven Gatter ist übrigens der einzige Potsdamer in der Runde der Prämierten. Wir haben tolle Künstler in Brandenburg, aber der Preis ist klar auf die Region Berlin-Brandenburg ausgelegt, heißt es bei der Lotto-Stiftung. Sprich: Die Dichte an Künstlern ist in der Großstadt natürlich höher als auf dem Land. Zu sehen sind die Arbeiten jetzt aber dennoch bis zum 24. Juli im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte (HBPG).
Mit Vergangenheit beschäftigt sich der Fotograf Sven Gatter: Fotos von an Seilen schwebenden Rennbooten und von Ballons mit Tragkörben zur Personenbeförderung hat er zu einem mehrteiligen Panel im HBPG zusammengefügt. Das bedarf Erklärung: Dort, wo früher in Braunkohleabbaugebieten das Gas für die Ballons mittels Elektrolyse gewonnen wurde, seien heute die Seen geflutet, Rennsport mit Booten boomt jetzt dort. Auch die „finalen Weltmeisterschaftsläufe der Formel 500 Schnellboote“ seien auf einem der neu entstandenen Seen ausgetragen worden. So steht es im Begleittext. Es kann auch vom Fotografen schön erfunden sein. Jedenfalls schafft Gatter mit seinen Bildern eine poetische Verbindung zwischen real existierender Luftfahrt- und Tagebaugeschichte.
In einem anderen Projekt fotografiert Gatter Menschen aus der „Kohletagebauregion B.“, aus der er stammt. Es sind unspektakuläre Bilder von Menschen, die sich nicht inszenieren, in deren Gesichtern und Haltungen sich dennoch die Geschichte des Landstrichs zu spiegeln scheint. Anhand eines Bildes einer verlassenen Gartenhütte erzählt der Fotograf von der Räumung der Gartenbaukolonie – wegen ihrer Nähe zum Bergbaugelände. Wie beiläufig fotografiert bergen seine Bilder doch eine erhebliche Poesie. Eine Poesie, die auch durch das Verschwinden, das Abwesende entsteht.
Aber genau das ist ja immer ein gutes Thema für die Kunst. Die Fotografin Veronica Losantos hat ihren Vater meist als abwesend erlebt. Aber: Die fehlende reale Erinnerung an Gemeinsames schließt die fiktive Inszenierung einer Vergangenheit, die es nie gegeben hat, nicht aus. So zeigt sie eine Fotoserie von gestellten oder nachgestellten Schnappschüssen mit ihrem Vater. Und tastet sich so ran an das Narrativ der Erinnerung. Diesen trügerischen Schein, der als reale Vergangenheit gilt – und doch möglicherweise nie so stattgefunden hat. „Screen Memory“, „Deckerinnerung“ ist der psychologische Fachausdruck für die Form von Gedächtnisbildern, bei der sich Bruchstücke wirklicher Erlebnisse mit Imaginiertem zu einer vermeintlich wahrhaftigen Erzählung verbinden. Trügerisch, wie der nostalgische Schimmer , der über den zeittypisch inszenierten, beiläufig wirkenden Fotografien Losantos liegt.
Großes erzählen lässt sich aber natürlich nicht nur in Bildern, sondern auch mit Worten. Michael Wildenhain tut das in „Das Lächeln der Alligatoren“. Darin lernt Matthias Marta kennen, die Pflegerin seines Bruders, der in einem Heim lebt. Matthias verliebt sich in die nur wenige Jahre ältere Frau. Was zunächst wie eine aussichtslose Liebe erscheint, entwickelt sich doch zu einer gemeinsamen Geschichte – allerdings mit tragischem Ausgang. Die Handlung des Romans führt den Protagonisten von jugendlicher Verliebtheit hin zum Kapitalverbrechen.
Ja, es seien die großen Fragen, die sich jedem immer wieder stellen würden, um die sein Werk kreist, erklärt Wildenhain. Liebe und Tod, Verantwortung und Schuld, Identität und Verlorenheit. Eigentlich interessieren ihn nicht so sehr die Figuren, sondern deren persönliche Verstrickung in das Weltgeschehen. „An sich spielt der Roman auf einer viel abstrakteren Ebene als es zunächst den Anschein hat“, sagt Wildenhain. Dennoch hat sein Roman einen ganz konkreten Bezugspunkt in der Historie. Der „Deutsche Herbst“, 1977, als Susanne Albrecht an der Ermordung des Bankiers Jürgen Ponto beteiligt war, den sie als Freund ihrer Eltern kennengelernt hatte. Die ehemalige Pädagogikstudentin Albrecht klingt in der Figur der Marta an. Aber es sind nicht die schon häufig ausgeloteten Abgründe der deutschen Geschichte, die das Buch Wildenhains preiswürdig machen, sondern die genaue Erfassung des Zeitgeschehens, die beiläufige Erwähnung von Symbolen und Motiven, die für eine ganze Generation prägend waren.
Die Potsdamer Autorin – und Jurorin des Lotto-Kunstpreises – Julia Schoch war außerdem von Jakob Nolte begeistert. Einen verwickelten Kriminalroman als stilistisches Experiment, angesiedelt in der „magischen Endzeitstimmung vor der Jahrtausendwende“, nannte sie seinen Roman, in dem es um eine Mordserie in einer fiktiven Kleinstadt voller skurrilen Figuren geht, deren elliptischen Gespräche und bizarren Gedankengänge nicht bloß Spielereien, sondern „Abbildungen der Wahrnehmungen unserer Welt“ seien, so Schoch. Richard Rabensaat
Richard Rabensaa
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