Kultur: Sprechende Hände und Sexy-Girl aus der Retorte
Die fabrik lädt heute zum Offenen Studio und schlägt dabei einen weiten choreographischen Bogen
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Bauzäune und aufgerissene Wege umgeben derzeit die fabrik. Sie künden hinter Staubwolken von der sich langsam vollendenden Schönheitskur. Auch im Inneren des Tanzhauses ist Bewegung, Neues im Entstehen. Fünf Gruppen aus Berlin, London, Stockholm und Zagreb gehen in getrennten Studios einem gemeinsamen Thema nach: der „Collaboration“. Dabei ist dieses Wort innerhalb der zwei Arbeitswochen für Choreografie keineswegs negativ besetzt. Statt feindlicher Übernahme will man hier ganz friedlich voneinander profitieren. Während sonst jeder in seiner „Ecke“ für sich allein arbeitet, soll dieser Sommer Tänzer und Choreografen verschiedener Länder zusammenführen. Und sei es beim gemeinsamen üppigen Frühstück.
Schon zum Auftakt ihres Potsdam-Aufenthaltes wurden die überwiegend jungen Leute an die Hand genommen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Bei einem Workshop befühlten die Teilnehmer intensiv die Hände eines anderen. Am Ende sollten sie mit verbundenen Augen diese wieder erkennen. „Alle haben ,ihre“ Hand gefunden“, erzählt die Französin Malgves Gerbes, die mit Tänzern aus Taiwan, Portugal, der Schweiz und aus Deutschland in einer Gruppe zusammenarbeitet. Während sie von den Begegnungen in ihrer Compagnie erzählt, leistet sie ebenfalls unentwegt „Handarbeit“. Wie die Worte fließen auch ihre Gesten: munter tanzen die Hände auf und ab, gehen aufeinander zu, verschränken sich, schlagen Kreise, ziehen strenge Linien.
„Schon bevor wir nach Potsdam gekommen sind, beschäftigten wir uns mit dem Thema Berührung und Distanz“, erzählt die junge Frau, die sich von der Hand-Reichung zum Auftakt nachhaltig inspiriert fühlt. Durch den Mentor, den sie während der Residence-Zeit in der fabrik erhielten, kam noch eine weitere Ebene ins tänzerische Spiel. Der Schriftsteller David William goss Wörter in ihren kreativen Trichter. „Mit ihnen versuchten wir, unsere unterschiedlichen Bewegungsformen genau zu benennen. Fünf unterschiedliche Arten haben wir definiert.“ Zuallererst die Begegnung mit sich selbst, dann die mit dem anderen. Dies mündete wiederum in der Frage der Abhängigkeit voneinander. Wie viel Platz lasse ich dem anderen, bin ich der Impulsgeber oder greife ich eher die Anregungen des anderen auf? Wie organisiere ich mich selbst in der Gemeinschaft? Nach dieser Standortbestimmung erforschten sie, wie sie einander beeinflussen, sich aufbauen oder „brechen“ können. „Inzwischen sind wir in der fünften Phase: Unsere Außenhülle wird allmählich durchsichtiger, die unmittelbare Begegnung intimer.“
Was sich aus diesem Aufbrechen noch alles ergibt, kann im Oktober zur Premiere des Stücks in der fabrik betrachtet werden. Heute im Offenen Studio wird die Gruppe um Malgves Gerbes einen ersten Einblick geben. „Wir zeigen in einer gut halbstündigen Performance das Skelett unserer Dramaturgie.“
In eine ganz andere, virtuelle Welt kann man bei den „Choreografen“ aus Stockholm eintauchen, die eigentlich Architekturstudenten sind. Sie durchschreiten in der fabrik die digitale 3D-Welt „Second Life“. Acht Millionen Menschen weltweit sind bereits auf dieser Internet-Plattform registriert, allerdings bleiben ihr weit weniger treu. Auch Markus Wagner wird sich nach Ende seines Projektes sicher wieder von dieser künstlichen Welt verabschieden, denn er findet sie doch eher langweilig. Derzeit tanzt er aber noch munter mit auf einer Party: Als Kim – ein flottes, schwarzhaariges Mädchen im Bikini. Jeder gibt sich in Second Life eine neue Identität und Männer gern auch eine weibliche. „Vielleicht verbirgt sich dahinter der Wunsch, einfach sexy auszusehen,“ so Markus inmitten seiner Computerwelt, die wenig an Tanz erinnert. Eine Vorlesung an der Uni in Stockholm gab den Anstoß, sich intensiver mit Second Life zu beschäftigen. Die erste Überraschung für den Architekturstudenten war, dass sich die Bewohner dieser Welt – die sich in ihrer zweiten, fiktiven Persönlichkeit Avator nennen – Häuser bauten. Obwohl es dort im Schutz des Internets nicht regnen oder gewittern kann und keiner frieren muss. Markus war indes enttäuscht von der Ideenlosigkeit der Häuslebauer, „alles zu brav und altbekannt.“ Das starke Interesse an ein zweites Leben führt der junge Schwede darauf zurück, dass jeder so sein kann, wie er will, „die Anonymität gibt ihm Schutz beim Ausleben seiner Sehnsüchte. Das ist wie bei einem Rollenspiel.“
Heute gibt es zu diesem Leben aus der Retorte einen Vortrag und auf einer Projektionswand kann man sich selbst ein Bild von dieser bunten Gesellschaft machen, in der Menschen zu Vampiren, Mangas oder Löwen werden oder eben das Geschlecht wechseln.
Beim Steyerischen Herbstfestival in Graz wollen die Performer dann die reale und virtuelle Welt im Theater aufeinanderprallen lassen. Menschen von der Straße sollen die Avators über ihre Identität befragen und versuchen, sie zu überzeugen, ihr Aussehen zu verändern. „Wir wollen herausfinden, inwieweit sie beeinflussbar und bereit sind, eine neue Gemeinschaft zu gründen.“
Markus fände es toll, wenn es in dieser virtuellen, hierarchisch strukturierten Welt – in der, anders als in Spielen wie „Die Siedler“, wirkliche Menschen aus der ganzen Welt agieren – keine Bodenhaftung mehr gäbe. Schwerelosigkeit statt strenges Unten und Oben. „Vielleicht würden die Leute dann beginnen, anders zu denken“: Neues hinter ihren Denkzäunen freilegen.
Offenes Studio, heute um 18 Uhr, fabrik, Schiffbauergasse
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