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Judith Ackermann ist Professorin Forschungsprofessorin für Digitale und vernetzte Medien in der Sozialen Arbeit an der FH Potsdam.

© Fabian Stürtz

Theater, Politik und Digitalität: „TikTok hat sehr viel mit Theater zu tun“

Theater und Digitalität, Wahlkampf per Minivideo: Die Potsdamer Medienprofessorin Judith Ackermann spricht über Potenziale sozialer Plattformen - und ihren eigenen TikTok-Account.

Frau Ackermann, stimmt die Beobachtung, dass sich die Theater erst aus der Not der Krise heraus der Digitalität geöffnet haben?

Ja, vor der Pandemie war es nur ganz vereinzelt so, dass man sich damit bereits befasst hat. Im ersten Lockdown gab es auch zunächst noch großen Widerstand dagegen. Man hoffte, dass der Lockdown schnell vorbeigeht. Aber dann kam irgendwann der Punkt, wo Theater auch gucken mussten, wie sie ihre Schauspieler:innen in Beschäftigung halten konnten.

Wie stehen Potsdams digitale Aktivitäten im Vergleich da? Woanders gibt es innovative Formate, hier vor allem Streaming.

Potsdam ist ein ganz typisches Beispiel. Das Gros der Häuser beginnt jetzt erst, sich damit zu beschäftigen, einen Gewinn für die eigenen Performances zu entwickeln. Man kommt erst jetzt weg von dem Notgedanken hin zu der Einstellung: Das hat auch eine Chance, dauerhaft die Idee von dem, was eine Aufführung ist, zu verändern. Das braucht relativ lang. Also: Potsdam ist da ganz im Mainstream.

Jetzt zeigt sich, wo digital schon vorgearbeitet wurde. In Potsdam eher nicht.

Augsburg hatte mit dem Aufbau einer digitalen Sparte schon begonnen, bevor man von der Pandemie wusste. Das war in diesem Sinne ein Glücksgriff, weil sie gleich voll durchstarten konnten, als der analoge Betrieb schließen musste. In Potsdam war der digitale Aktionstag von KulturMachtPotsdam eine sehr gute Idee, um die Bandbreite digitaler Projekte sichtbar zu machen. Das besonders Gelungene war hier, dass der Tag Hemmnisse gut abbauen konnte, denke ich. Dadurch, dass man selbst entscheiden konnte, was man wahrnehmen wollte und wie viel. 

Stichwort Niedrigschwelligkeit: Da kann Theater von TikTok lernen, sagen Sie. Wie genau?

Eines der zentralen Themen ist für mich: Wie bekomme ich neue Publika in die Häuser? Allein zu sagen: „Ich gehe jetzt ins Theater“ erfordert schon sehr viele Wissensbestände, die nicht alle haben. Dabei haben viele Dinge, die wir in den sozialen Medien alltäglich erleben, viel mit Theater und Performance zu tun, auch wenn es nicht so benannt wird. 

Diese Brücke zu schlagen, ist für beide Seiten sehr wichtig, denke ich. Dass die Häuser einerseits sehen: Ich kann den Begriff von „Aufführung“ erweitern und dadurch für viel mehr Personen attraktiv werden. Und dass die, die sonst nicht ins Theater gehen, sehen: Das ist ja ohnehin so ähnlich wie das, was ich sonst mache. 

Auf TikTok können User Filme posten, maximale Länge: eine Minute. Was hat das mit Theater zu tun?

Sehr viel. Einerseits ist die Plattform von allen sozialen Plattformen am meisten auf Fiktion und Darstellung konzentriert. Es geht nicht nur darum, Momente aus seinem Leben zu teilen, sondern man wird dezidiert dazu aufgefordert, zu bestimmten Themen darstellerisch aktiv zu werden. Viele junge Menschen engagieren sich besonders mit Tanzvideos, wofür dann Choreografien einstudiert werden. Die haben ein verbindendes Moment – den identischen Sound. Aber die Choreografie ist jedes Mal anders. Wie am Theater, wo auch jede Aufführung anders ist, weil immer wieder andere beteiligt sind. 

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Und außerdem?

Die App lädt auch dazu ein, miteinander in eine Wechselwirkung zu treten. Wie die Feedbackschleife am Theater, wo alle Akteur:innen sich gegenseitig beeinflussen. Bei TikTok kann man kleine Elemente ausschneiden und die in einem neuen Video weitererzählen. Dadurch entsteht etwas Größeres in einem Prozess, an dem ganz viele beteiligt sind. Es ist offen für alle, und bleibt trotzdem so etwas wie ein gemeinschaftliches Produkt.

Von der Idee, dass Theater gemeinsam im Raum erlebt wird, muss man sich lösen?

Ich verstehe TikTok eher als einen Kreisweg, der Inhalte dann wieder zurück ins Analoge spielt. Inhalte können mit einem verteilten Publikum verschränkt und von diesem mitgestaltet werden – und laden dann aber wieder zurück in die physische Theatersituation ein. 

Dann bliebe der Aspekt der Co-Präsenz erhalten, aber er wäre über den digitalen Weg partizipativ mitgestaltet worden. Die Aufführung wäre dann nicht nur der Moment, der auf der Bühne gezeigt wird, sondern würde schon vorher im Prozess stattfinden.

TikTok hat ein millionenschweres Förderprogramm gestartet, um Kulturinstitutionen in der Krise zu unterstützen. Mehr als eine gigantische Marketingmaßnahme?

Es ist natürlich eine großangelegte Marketingaktion. Das Geld kommt, soweit ich weiß, aus einem EU-Fonds, der dafür genutzt wird, dass TikTok einige Projekte auswählt. Die Institutionen sind noch verhalten, ob sie sich darauf bewerben sollen. Aber es kann ein Generator für neue Projekte sein. Es geht nicht darum, dass das gesamte Projekt auf TikTok stattfindet, sondern einzelne Elemente davon, auf TikTok platziert werden.

Gibt es aus Ihrer Sicht bei der chinesischen Datenkrake TikTok mehr Grund für Vorbehalte als bei anderen?

Ob amerikanische Firmen meine Daten auswerten oder chinesische Firmen: Für mich funktionieren sie schon sehr ähnlich. Bei allen Plattformen muss man genau schauen, was in den Datenschutzerklärungen steht. TikTok ist im Moment die einzige Plattform, die aktiv eigene Inhalte unterstützt – natürlich auch, weil sie das öffentliche Bild verändern möchte. Aber gerade, wenn man mit seinen Inhalten stattfinden und junge Menschen erreichen möchte, kann man an der Plattform nicht komplett vorbeigehen. 

TikTok wurde von der Politik auch für den Wahlkampf entdeckt. 

Wegen der Bundestagswahl poppen da gerade sehr viele Accounts auf. Was ich interessant finde: Es sind die Reaktionsvideos, die eigentlich von Nutzen sind. Die Plattform lädt ja auch dazu ein, selbst zu kommentieren. Und das kann schon dazu führen, dass sich mehr Menschen mit politischen Inhalten auseinandersetzen als es vielleicht sonst tun würden. 

Befeuert das Kurzformat nicht Populismus?

Oft sind das ja nicht Ein-Minuten-Statements zum Wahlprogramm. Der Ton ist oft relativ abstrakt, etwas Humoristisches, das noch nicht verknüpft ist mit den Inhalten. Das virale Video eines FDP-Politikers zeigt unter der Überschrift „Immer, wenn ein AfD-Antrag reinkommt“ einen „Ah oui“-Sound, zu dem er dann ein Blatt Papier zerknüddelt und in den Papierkorb wirft. Dabei geht es nicht um konkrete Inhalte, sondern um das Verhältnis unterschiedlicher Parteien. Das erlaubt eine Abgrenzung auf humoristischer Ebene, ohne aber konkrete Inhalte zu teilen.

Was TikTok im Wahlkampf also bestenfalls kann: humorvolle Distanznahme?

Humorvolle Distanznahme, die trotzdem einen Zugang ermöglicht und ein Erstinteresse für Politik generieren kann, ja. 

Hat humorvolle Distanznahme Sie auch dazu bewegt, selbst als Professorin auf TikTok aktiv zu werden?

Eigentlich gar nicht. Ich habe einfach gemerkt, dass Studierende oft mit dem wissenschaftlichen Arbeiten Schwierigkeiten haben und die Zeit fehlt, um sich dem zu widmen. Also dachte ich: Das kann man gut in einer Minute erzählen. Bei mir funktioniert das so, dass die Studierenden eine konkrete Frage stellen können: Wie viele Quellen soll ich benutzen? Wie schreibe ich eine Einleitung? 

Die kritische, humorvolle Distanz gibt es bei mir dann immer noch dazu, weil mich der performative Aspekt interessiert. Das führt gleichzeitig dazu, dass es eine Öffnung gibt. Universitäten oder Fachhochschulen sind für viele noch eine Art Elfenbeinturm. Und wenn ich mich da in einem Quatschvideo ein bisschen zum Affen mache, kriegt man das Gefühl: „Das sind auch nur Menschen. Vor denen brauche ich keine Angst zu haben.“

Wovor Sie als Professorin offenbar keine Angst haben: Autoritätsverlust.

Nein. (lacht) Das habe ich hinter mir gelassen.

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Judith Ackermann, geboren 1982 in Rheinbach, ist Forschungsprofessorin für Digitale und vernetzte Medien in der Sozialen Arbeit an der FH Potsdam. Sie befasst sich mit den Potenzialen der Digitalisierung für Gesellschaft und Kultur. Seit 2017 leitet sie anteilig das Bundesprojekt „Postdigitale Kunstpraktiken in der Kulturellen Bildung“. Ackermann ist wissenschaftlicher Beirat der Akademie für Theater und Digitalität und betreibt seit August 2020 als @dieprofessorin Wissenschaftskommunikation auf TikTok.

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