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Kultur: Tschernobyl

Wie Künstler eine Geisterstadt beleben

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Es ist niemand mehr da. Kein Zeichen von Leben. Häuser, die zerfallen, Bäume, die sich durch Mauern brechen, nahe der Stadt Tschernobyl in der Ukraine, die früher Sowjetunion war. Ein schöner Naturpark dort, wo es am 26. April 1986 im Kernkraftwerk, Block 4, nahe der Stadt Prypjatin, eine Explosion gab. Die zweite nukleare Havarie nach der im russischen Majak 1957 und eine der größten Umweltkatastrophen überhaupt.

Man meint sie fast zu spüren, die Stille die jetzt dort herrschen muss, in der Plattenbausiedlung Prypjat. Den Wind, der durch die Fensterlöcher streicht, durch die offenen, schief im Rahmen hängenden Türen, an brüchigen Wänden und Mauern vorbei, die junge Künstler aus Moskau, Minsk und Berlin im Oktober des vergangenen Jahres in der Geisterstadt fotografiert haben. Sie zeigen eine Stadt ohne Menschen, ohne Leben, die langsam zerfällt. Nur das herbstliche Grünbraun, das die Vergangenheit langsam zu überwuchern beginnt, kann hier, hinter dem Stacheldraht, existieren.

Eine Auswahl der in der Sperrzone entstandenen Bilder ist bis zum 5. Juni im Truman-Haus in der Karl-Marx-Straße 2 zu sehen. Die Friedrich Naumann Stiftung stellt die künstlerischen Fotografien zum 20. Jahrestags des Unfalls aus.

Die Schau fängt an mit reportagehaften Schwarzweißbildern von Sergey Abramchuk, einem in Weissrussland geborenen Künstler, der als Fotograf in Moskau lebt. Er ist ganz nah heran gegangen an den wuchtigen Reaktor-Klotz, in dem es immer noch brodelt, unter dem Sarkophag aus Beton, der mit einem dichteren überbaut werden soll. Ein Stoppschild am Eingangstor. Der Reaktor ist ausgeschaltet. Heute wird hier noch radioaktiver Abfall entsorgt. Sehen kann man das auf der Fotografie nicht. Kein Zeichen von Leben, auch nicht an diesem Ort. Die Kamera von Abramchuk blickt in die Gegend, zeigt poetisch schöne Bilder von einer Straße mit Schlaglöchern, die auf den Horizont zuläuft, von einem Wald aus Strommasten.

Auf ähnliche Weise nähern sich auch die anderen Künstler dem Ort. Sie porträtieren seine Leerstellen, seine Einsamkeit, seine Zerfallenheit. Mit allerdings einem Unterschied: Durch kleine künstlerischen Eingriffe füllen sie selbst die Leerstellen, mit Zeichnungen, die sie als Graffities an die Wände sprühen, bevor sie ihre Kamera auf die Geisterstadt richten. Sprühbilder als Kommentare auf den Reaktor, der so unglaublich nah scheint hinter der Plattenbausiedlung, der sich allgegenwärtig ins Bild drängt, gleich wohin die Fotografen blicken.

Tobias Starke aus Berlin hat in die trostlose Stadtlandschaft ein schreiendes Babygesicht gesprüht. Auf seinem Bild „Sorglos“ zeigt er einen wohl kiffenden, zufrieden lächelnden Jungen inmitten verlassener Ruinen. Der Maler und Fotograf Kim Köster, auch aus Berlin, stellt ein schreiendes Frauengesicht neben die Aussicht vom Dach auf die Stadt. Der Künstler Denis Averyanov lässt ein Mädchen auf einem roten Gummiball durch die Ruinen hüpfen, ihre Zöpfe fliegen durch die Luft. Sie fehlt. Konstantin Danilov aus Moskau füllt die Leerstellen sehr eindrucksvoll mit Schatten von Kindern, die spielen, die auf einer Treppenstufe sitzen, so wie Kinder das auch früher, vor 1986, gemacht haben könnten. Er zeigt in einer Sporthallenruine herumliegendes Spielzeug, daneben Gasmasken. Solche Bilder lösen Gefühle aus, machen traurig, vielleicht hilflos. Sie klagen an.

Und das überrascht nicht, das erwartet man von Fotografien aus der Sperrzone. Trotzdem können die Bilder nicht viel mehr erzählen, als Bilder von anderen verlassenen Städten. Künstliche Gesichter sind nötig, um ihre Ausdruckskraft zu stärken. Sie sprechen nicht für sich. Trotz der noch immer vorhandenen Bedrohung, die von dem Ort ausgeht. Denn radioaktive Strahlung ist eben unsichtbar – und schwerlich zu fotografieren. Marion Hartig

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