
© fabrik/Achim Plum
Kultur: Unter Druck
„Artists-in-Residence“-Nachlese 2011: „fabrik“ startet am 12. Januar das Festival „Made in Potsdam“
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Der Chor ist eng in einer Bushaltestelle zusammengequetscht und singt aus voller Kehle zu dem Sound einer Harley Davidson auf Sonntagsfahrt. Dann wieder sieht man Tauchsportler im schwarzglänzenden „Ganzkörperkondom“ aus den Tiefen der Havel steigen und sich mit Paaren in verspielt-historischen Gewändern verbrüdern. „Choreografische Bilder im Feld“ ist diese Inszenierung überschrieben, die die Potsdamer Tänzerin und Choreografin Paula E. Paul und Medienkünstler Sirko Knüpfer im Sommer 2011 quer im Land Brandenburg augenzwinkernd entstehen ließen. Auch Jugendliche, die mit Kunst so gar nichts am Hut hatten, gewannen sie für ihr Filmprojekt, das Freizeitgruppen aus verschiedenen Städten und manchem Kaff – von der Bikergruppe bis zur Barocktanzgruppe – unter dem tiefen Himmel Brandenburgs zusammenführte.
Diese choreografischen selbstironischen Gruppenbilder tragen das Qualitätslabel „Made in Potsdam“. Unter diesem Markenzeichen findet vom 12. bis 15. Januar ein Festival statt, das sieben Arbeiten von Choreografen vereint. Die Macher kommen keineswegs nur aus Potsdam, sondern auch aus Stockholm, Amsterdam, Taiwan, Helsinki oder Athen. Nicht die Herkunft des Einzelnen bestimmt „Made in Potsdam“, sondern der Herstellungsort: also Potsdam, das Netzwerk „fabrik“. Das viertägige Festival, das das „Herbstleuchten“ ablöst und künftig unabhängig von der Jahreszeit ausgetragen werden kann, zeigt vor allem die Ausbeute der „fabrik“-Residenzen 2011. Shang-Chi Sun war im Juni des vergangenen Jahres hier in Residence und entwickelte das 16-minütige Solo „Traverse“, in dem er in einem abstrakten Tanz emotionale Zustände durchmisst: im ständigen Wechsel zwischen hochexplosiven und ruhigen Momenten. „In der Ruhe liegt bei ihm die Kraft. Er kann aber auch zuschlagen wie ein Tiger“, sagt Pressesprecher Laurent Dubost über diese sehr virtuose Arbeit, die Elemente des Balletts ebenso wie aus dem asiatischen Tai Chi oder Kung Fu verbindet. „Shang-Chi Sun ist ein begnadeter Tänzer, der in der weltweit bekannten taiwanischen Gruppe ,Cloud Gate’ seine Ausbildung erhielt“, so Laurent Dubost. Zuvor war der Taiwanese bei den Tanztagen der „fabrik“ in einem Stück zu Beckett zu sehen gewesen: mit vielen Objekten und aufwendigem Bühnenbild. Nun machte er den Sprung zurück: zum reinen Tanz. Shang-Chi Sun nutzte dazu die entspannten Arbeitsmöglichkeiten als „Artist in Residence“.
Obwohl das vom Bund geförderte „Tanzplan-Residenzen-Programm“ 2010 nach fünf Jahren beendet wurde, köchelt die „fabrik“ auf Sparflamme ihre Residenzen weiter. Der einstige Residencen-Etat von 280 000 Euro pro Jahr ist indes kräftig geschrumpft. „Heute erhalten wir noch 20 000 Euro aus Hauptstadtmitteln. Hinzu konnten wir aber 15 000 Euro vom Institut Francaise einwerben.“ Die Folge der massiven Kürzung: Aus den rund 25 Companien, die bis 2010 in der Schiffbauergasse „In Residence“ arbeiteten, sind inzwischen etwa zehn geworden. Und von diesen zehn erhalten vielleicht noch drei eine finanzielle Unterstützung. Stipendien, die ein freies Experimentieren ermöglichten, ohne Druck, das Ergebnis schnell wieder vermarkten zu müssen, gibt es kaum noch. „Wir geben jetzt überwiegend räumliche, technische und dramaturgische Unterstützung“, so Dubost.
Dennoch können sich Companien weltweit um eine Residence bewerben – auch ohne offizielle Ausschreibung. „Wir schauen dann, ob es konzeptuell und zeitlich passt und ob wir das Projekt spannend finden.“ Die „fabrik“ setzt nunmehr klare Prioritäten und vergibt Stipendien nur noch dann, wenn langfristige Kooperationen angedacht sind.
Ein wachsames Auge werfen die „fabrik“-Leute dabei immer wieder auf Gunilla Heilborn, die zwischen Film und Tanz mäandernde Schwedin. Sie wird mit Blitz, Donner und Sturm „Made in Potsdam“ erobern. „Gunilla Heilborn zieht mit einer ganz unglaublichen Weltuntergangsstimmung in ihre Choreografie hinein, wie in einem nordischen Krimi. Aber auch die Ruhe nach dem Sturm ist nicht weniger spannend“, betont Laurent Dubost. In „This is not a Love Story“ erweise sich die Choreografin erneut als Meisterin des feinsinnigen Humors. „Auch die Darsteller, eine Finnin und ein Schwede, sind sehr nordeuropäisch, ich würde sagen, ein bisschen kühl. Sie brechen nicht im Gelächter aus, wie ich als Franzose es tun würde, sie bevorzugen in absurden Dialogen die feine Ironie.“ Gunilla Heilborn ist für ihre Roadmovie-Choreografie von Tromsø am Nordkap über Potsdam bis nach Lissabon gereist, um zu fragen, ob es trotz so unterschiedlicher Kulturen und Temperaturen Gemeinsamkeiten unter den Menschen gibt. Reisen als Erfahrung und Horizonterweiterung, um in das Wesen facettenreicher Charaktere einzudringen.
Die „fabrik“ schaut aber auch vor die eigene Haustür, um Talente zu fördern. Timo Draheim, Urgestein der Oxymoron Dance Company vom Waschhaus, bekam 2011 ebenfalls die Möglichkeit, seine Potentiale in einer „Residence“ zu vertiefen. Und er stellte sich damit ganz schön unter Druck. Unter der Regiehand von Jörg Schiebe entblößte der begnadete Tänzer auch den Menschen Timo Draheim. „Es ist wirklich überraschend, mit welcher Vehemenz Timo jetzt das Sprechen mit einbezieht, Tanz und Schauspiel verbindet.“ In „Under Pressure“ sieht man einen wütenden zweifelnden Timo Draheim.
„Made in Potsdam“ vereint sehr unterschiedliche Arbeiten, filmisch rasante, hochkonzentrierte, virtuose. Sinnesverwirrung und Sinnesexplosion. Es ist ein Vorgeschmack auf die kommenden Internationalen Tanztage im Mai und eine Nachlese auf 2011: die Quintessenz eines weltweiten Netzes, ausgeworfen in der „fabrik“, „Made in Potsdam“.
„Made in Potsdam“ vom 12. bis 15. Januar in der fabrik, Schiffbauergasse. Karten uner Tel.: (0331) 24 09 23 oder
www.fabrikpotsdam.de
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