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DIE PREISE: Von Amerika nach Hellersdorf

Studentenfilmfestival „Sehsüchte“ prämierte sozialkritischen Film aus den USA als besten Spielfilm

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Die „Sehsüchte“ bleiben sich treu. Wie schon in den vergangenen Jahren ging der Spielfilmpreis auf Europas größtem Studentenfilmfestival diesmal nicht an einen professionellen, kino- und fernsehtauglichen Film, nicht an einen ausgeflippten Experimentalfilm oder eine abgebrühte Gewaltorgie. Nein, „Diorama“ ist wieder einmal ein eher ruhiger, unaufgeregt erzählter Streifen über ein kleines, für sich genommen aber gar nicht so unbedeutendes, soziales Problem.

Izzy lebt alleine mit ihrer Mutter zusammen. Die Mutter macht Musik, spielt in Bars, hält sich mehr schlecht als recht über Wasser. Und trinkt. Das Mädchen ist in einem Alter, in dem man anfängt sich von den Eltern abzunabeln, vielleicht 15, 16 Jahre. Sie beginnt ihren Weg zu gehen, ihre eigenen Interessen zu verfolgen. Doch nicht einmal die zehn Dollar, die sie für den Schulausflug braucht, findet sie im Portmonee der Mutter. Sie schaltet die Tante ein, versucht ihre Violine zu verkaufen und sammelt schließlich Geld aus einem Brunnen, um alleine ins Museum zu gehen. Am Ende liegt sie in ihrem Zimmer und verliert sich in Tagträumen über ihr Lieblingsthema, die Tierwelt.

Ein unspektakuläres, offenes Ende. „Aber es ist klar, sie geht nun ihren Weg“, sagt der Regisseur und Preisträger Ben Kalina aus den USA im Gespräch mit den PNN. Er habe keinen sozialkritischen Film machen wollen. Vielmehr wollte er zusammen mit Kameramann und Co-Drehbuchautor Tom Quinn zeigen, wie hart es in den USA sein kann als Künstler zu überleben. Durchhaus auch mit Blick auf das eigene Leben, das die beiden nach dem Studium erwartet. So gesehen ist der in einer beliebigen US-Großstadt angesiedelte Film schließlich dann doch durchaus auch Sozialkritik.

Eine ähnlichen Blick wirft die diesjährige Dokumentarfilm-Preisträgerin Astrid Schult (Filmakademie Baden-Württemberg) auf die soziale Realität in Ostdeutschland. Sie verbringt einen Tag mit dem achtjährigen Dominik und seiner Familie in Berlin-Hellersdorf. Die Mutter ist alleinerziehend, es gibt noch drei Geschwister, um die älteren muss Dominik sich kümmern. Drumherum Plattenbau Ost, Tristesse, graue Wolken und riesige, für Kinder hochgefährliche Straßenkreuzungen. Dominik ist viel mit sich und seinen kleinen Geschwistern allein. „Manchmal bin ich nicht da, manchmal bin ich weeß ick wo“, sagt er. Für die Kindheit bleibt kaum Zeit, er hat seine Pflichten. Die Mutter will, dass er es mal besser hat als sie, in der Schule nicht durchfällt. Woher Dominik die Kraft nimmt, morgens aufzustehen? „Von Gott“, sagt der ganz unreligiöse Junge sofort. „Der ist mein Freund“.

Ganz anders das Leitmotiv des polnischen Films „Melodramat“ („Melodrama“) von Filip Marczewski, der bei den gestern zu Ende gegangenen „Sehsüchten“ den Preis für den besten Schnitt erhielt. „Ich bin Gott“ skandiert ein polnischer HipHoper, „auch Du bist Gott, stell es dir vor“. Am Ende des Films hat der 15-jährige Hauptdarsteller diese Worte auf den Lippen. Von Hooligans zusammengeschlagen, weil er sie daran gehindert hat, ein Nachbarmädchen zu vergewaltigen, kickt der Junge einen Ball auf einem verkommenen Hinterhof gegen die Wand. Es klingt nicht sehr überzeugt, wenn er singt, dass er Gott ist. In dem Hinterhof liegt auch die Wohnung, wo er mit seiner älteren Schwester zusammen lebt. Gerade in die Pubertät gekommen gibt er sich sexuellen Phantasiebildern von seiner Schwester hin. Als sie entdeckt, dass er in ihre Unterwäsche onaniert, zerbricht das geschwisterliche Verhältnis. Der Junge ist eindeutig nicht Herr der Dinge.

Auffällig viele Filme wurden in diesem Jahr bei den „Sehsüchten“ prämiert, bei denen Kinder und Jugendlichen im Mittelpunkt stehen. Vielleicht ein Ergebnis der innerdeutschen Kinder-sind-unsere-Zukunft-Debatte, vielleicht aber auch nur die angemessene Würdigung dafür, dass diese Filme meist sehr sensibel erzählt sind. Wie etwa auch der Film „A Vizsga/The Test“ von Viktor Nagy (Ungarn), der den Preis gegen Ausgrenzung errang. Hier wurde die Überalterung in Europa ins Negative weitergedacht. Ab 65 muss man zum Test, um zu beweisen, dass man noch ein vollwertiges Mitglieder der Gesellschaft ist. Wer durchfällt, ist raus. Über diesen Test kommen sich Vater und Sohn noch einmal näher, doch der Vater verweigert den Test. Er beendet die Sache von eigener Hand.

In Momenten, in denen man bei den diesjährigen „Sehsüchten“ den Blick von der Bilderflut auf der Leinwand losreißen konnte und an die haushohe Decke des Kinosaals schaute, wurde klar, welche ebenso hohe Bedeutung dieses wieder einmal sehr gut besuchte Festival für Potsdam gewonnen hat. Hatte doch Potsdam vor vielen, vielen Jahren schon einmal ein eigenes Filmfest, das aber scheiterte. Diese Lücke haben die HFF-Studenten bravurös aufgefüllt. Und auch wenn man von ihnen stellenweise die Sorge vernimmt, das Festival könne ihnen über den Kopf wachsen, sieht man es doch gerne von Jahr zu Jahr größer werden.

Bester Spielfilm (5000 Euro): „Diorama“ von Ben Kalina (USA). Bester Dokumentarfilm (5000 Euro): „Zirkus is nich“, Astrid Schult. Bester Animationafilm (2000 Euro): „Die Eierbrecher“, Emanuel Strixner (Deutschland). Preis gegen Ausgrenzung (2500 Euro): „The Test“, Viktor Nagy (Ungarn). Bester deutscher Nachwuchsfilm (2500 Euro): „Das Geheimnis von Deva“, Anca Lazarescu. Bester Schnitt (1800 Euro): „Melodrama“, Filip Marczewski (Polen). Produzentenpreis (15 000 Euro): „NimmerMeer“, Toke Constantin Hebbeln (Deutschland/Dänemark) und „Über die Schwelle“, Stefan Mehlhorn (Deutschland). Fokus-Dialog-Preis (1000 Euro): „To Stay“, Christopher Murray (Chile). Bestes Drehbuch (1500 Euro): „Nordwind“, Ira Völker.Publikumspreis (2000 Euro): „Milan“, Michaela Kezele. PNN

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