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Kultur: Von Berlin nach Potzlow
Die Preisträger des diesjährigen Studentenfilmfestivals „Sehsüchte“ könnten kaum konträrer sein. Hauptpreis an „Oh Boy“
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Altbauwohnung, schiefer Spiegel, Zigarette am Toaster angezündet, der junge Mann sagt zu seiner Freundin, er wisse nicht, ob er für sie am Abend Zeit habe, er habe 1000 Dinge zu tun. So viel ist es dann doch nicht, was noch zu erledigen ist. Eigentlich treibt Niko (Tom Schilling) eher ziellos durchs Leben. Schwarz-Weiß-Bilder, Swingmusik, kann das Berlin 2012 sein oder ist es eher Paris 1961? Szenen wie Zitate, man meint Belmondo in „Außer Atem“ zu sehen. Doch tatsächlich driften wir durch das heutige Berlin. Mit „Oh Boy“ ist Jan-Ole Gerster (dffb Berlin) ein berauschender Berlinfilm gelungen, der mittlerweile Kultstatus hat. Die junge Generation meint sich in dem strauchelnden Niko, gespielt von Jungstar Tom Schilling, wiederzuerkennen. Führerschein weg, Konto leer, Studium schon lange abgebrochen und keine Ahnung, was morgen wird. Die Idee funktioniert: ein Tag im Leben von Niko, ein Tag in Berlin. Dafür hat dem dffb-Absolvent die Spielfilmjury des Potsdamer Studentenfilmfestivals „Sehsüchte“ am Sonntagabend den Preis für den besten Spielfilm verliehen, gerade mal zwei Tage, nachdem der Film sensationelle sechs Lolas beim Deutschen Filmpreis abgeräumt hat.
Die Sehsüchte-Jury spricht von einem kleinen Filmwunder, fesselnd, mutig, gewitzt. Jan-Ole Gerster habe mit viel Liebe zum Detail ein ganz eigenes Werk geschaffen, das man immer wieder sehen möchte. Was sicher auch an der Starbesetzung liegt, man meint fast alle Gesichter aus Film und Fernsehen zu kennen. Und schließlich ist es der Berliner Charakterkopf Michael Gwisdek, der am Ende den Antihelden Niko aus seiner Passivität reißt. Doch das Aufeinandertreffen der beiden einsamen Wölfe ist nur von kurzer Dauer: Niko bringt den alten Mann nach einem Zusammenbruch ins Krankenhaus. Aber dem kann nicht mehr geholfen werden.
Konträrer zu diesem doch eher lockeren Stück am Puls der Zeit könnte der Preis für den Dokumentarfilm über 60 Minuten gar nicht ausfallen. Der HFF-Film „Nach Wriezen“ von Daniel Abma, der auch für den besten Schnitt prämiert wurde (Jana Dugnus), zeigt eine ganz andere Facette der heutigen Mittzwanziger. Welten entfernt und doch nicht weit weg vom stilisierten Berlin in „Oh Boy“ hat der Regisseur drei Straftäter der JVA im brandenburgischen Wriezen bei ihrem Weg in die Freiheit begleitet. Der Film ist nicht unumstritten, denn einer davon ist Marcel S. – einer der Täter von Potzlow, die 2002 einen 16-jährigen Schüler Marinus Schöberl bestialisch gequält, getötet und in einer Jauchegrube versenkt hatten.
Der Film begleitet ausschließlich die Straffälligen. Die Opferseite wird nicht erwähnt. Marcel S. scheint geläutert, auf Nachfrage des Regisseurs spricht er von Reue, es sei eben nicht mehr rückgängig zu machen, dass er den Eltern ihren Sohn genommen habe. Marcel wird selbst Vater, die Hakenkreuztätowierungen hat er abändern lassen. Wir sehen einen jungen Mann mit hellen Augen und sensiblen Zügen im Gesicht auf einem Balkon sitzen, Basecap, kurze Hosen. Kann das einer der Täter von Potzlow sein? Unweigerlich muss man an Hannah Arendts „Banalität des Bösen“ denken. Der junge Mann sagt, dass er heute Konflikte ohne Schläge zu lösen weiß. Doch Regisseur Abma kitzelt an einigen Stellen auch andere Facetten aus dem 25-Jährigen heraus. Wenn jemand seiner Tochter etwas antue, dann mache er den fertig. Dann könne er richtig böse werden, sagt er. Und man glaubt ihm das. Die Jury hat den Film ausgewählt, weil Abma sich Menschen ohne Vorurteile nähert, vor denen man eigentlich Angst haben müsste. Er zeige ihre Sorgen, Geheimnisse und Schwächen. „Bewegend, überraschend, menschlich“, so das Urteil.
Mit „Am Himmel der Tag“ von HFF-Studentin Pola Beck wurde ein zweiter Film aus Potsdam ausgezeichnet. Der Preis ging an Aylin Tezel für die mutige und sehr persönliche Darstellung der Lara. Ähnlich wie Niko in „Oh Boy“ treibt auch Lara etwas planlos durchs Leben. Bis sie nach einer bedeutungslosen Partyaffäre schwanger wird. Sie entschließt sich, das Kind alleine zu bekommen. Als es kurz vor der Geburt aufhört zu leben, behält sie es im Bauch – bis sie zusammenbricht und ins Krankenhaus kommt. Wer die Szene gesehen hat, in der Lara den winzigen Leichnam ihres Sohnes in einem Körbchen gebracht bekommt, um Abschied von ihm zu nehmen, der weiß, wofür Aylin Tezel den Darsteller-Preis bekommen hat.
Doch nicht alle prämierten Filme drehen sich um das Leben junger Menschen Mitte zwanzig. Auch das Thema Migration und Integration steht oft im Vordergrund. Der erste Produzentenpreis ging an „Eastalgia“ (Rafele Perente, Korbinian Dufter, Simon Amberger), der parallel drei Geschichten vom Ankommen und Bleiben in München, Kiew und Belgrad erzählt. Der Preis für die kurzen Dokumetarfilme ging an den Film „Migratory Birds“ von Katja Lautamatti, die das nigerianische Mädchen Esther im Libanon begleitet, das auf ein Flugzeug wartet, das sie von dort weg bringt.
Dass der russische Kurzfilm „F5“ den Preis für kurze Spielfilme erhielt, dürfte ganz im Sinne des Jury-Mitglieds Andreas Dresen sein. Hatte er sich doch im Vorfeld erstaunt gezeigt, dass viele Filme eher unpolitisch sind. Was auf „F5“ nicht zutrifft. Dieser Film setzt sich mit der Anpassung an den Kommerz und der scheinbaren Notwendigkeit kapitalistischer Verkaufserfordernisse auseinander. Der Jury gefiel, dass hier die Frage aufgeworfen wurde, wie weit und konsequent man seinen eigenen Weg gehen soll. Dass schließlich der britische Film „The Mass of Men“ den Preis im Fokus „Exzess“ erhielt, verwunderte nicht sonderlich. Der Film zeigt äußerst eindrücklich, wie der 55-jährige Arbeitslose Richard aus einer für ihn sehr ungerechten Lage dank eines unerwarteten Amoklaufs wieder herauskommt. Glück im Unglück also.
Am Ende bleibt zu sagen, dass die herausragende Qualität der Wettbewerbsfilme in diesem Jahr auffällig war. Ganze Filmblöcke liefen ohne Ausreißer nach unten. Großes Lob an die Programmgruppe! Hinzu kam die überragende Ton- und Bildqualität des Rotor-Studiokinos, was für den neu gewählten Standort spricht. In die Filmstadt war man gewechselt, um neben den Filmblöcken auch das Rahmenprogramm in der HFF besser miteinbeziehen zu können. Allerdings bleibt anzumerken, dass das Babelsberger Thalia-Kino, in dem das Festival in den zehn Jahren zuvor stattgefunden hatte, als Festivalkino unerreicht bleibt, waren hier doch die Filmblöcke alle auf einem Punkt konzentriert und die Verkehrsanbindung an dem Standort mitten im Herzen Babelsbergs perfekt. Dagegen verstreute sich das Publikum in der Filmstadt etwas und die Wege zwischen HFF und Rotor-Studiokino erforderten ein gutes Timing.
Immerhin aber steigerte sich der Besucherzustrom nach einem etwas ruhigen Start zum Wochenende hin deutlich. Am Donnerstagabend gab es erste ausverkaufte Filmblöcke, Freitag und Samstag waren die stärksten Tage. Mit dem Nebenprogramm waren die Veranstalter nach eigenen Worten ebenso zufrieden. Insgesamt konnten die „Sehsüchte“ von Dienstag bis Sonntagmorgen knapp 6300 Besucher zählen – ohne das Sonntagsprogramm und die Preisverleihung. Damit liegt man deutlich über den rund 6000 Besuchern des Vorjahres.
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