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Kultur: Warten – und mehr

Die DDR-Bushaltestellen als Orte des Erinnerns: eine Ausstellung im al globe mit Begleitbuch

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Die DDR-Bushaltestellen als Orte des Erinnerns: eine Ausstellung im al globe mit Begleitbuch Jeder hat wohl „sein" Wartehäuschen, gefüllt mit Erinnerungen. Vielleicht an die erste heimliche Zigarette, an aufgeregte pubertäre Liebkosungen oder an das hastige Abschreiben unerledigter Hausaufgaben ... Wer sich die derzeitige al globe-Ausstellung mit Fotografien von DDR-Bushaltestellen anschaut, fährt zurück in die eigene Vergangenheit – und gelangt dabei an ganz verschiedene Orte. Jürgen Haese, ein Journalist aus dem Westen, sah kurz nach der Wende diese merkwürdigen Häuschen – meist einsam auf freier Strecke – und fragte sich: „Für wen stehen sie da?" Für ihn hatten diese so ganz verschiedenen Unika in einer Zeit des Niedergangs und Aufbruchs etwas Liebenswertes. „Jedes war von ausgeprägter Individualität: mal größer, mal beängstigend klein, gemauert oder aus Wellblech, Kunststoff, Beton, oder sogar aus Presspappe, mit oder ohne Fenster, kunstvoll bemalt oder nur angestrichen und manches mit einem eingezäunten Vorgarten versehen und der kurze Steg zum Straßenrand gepflastert." Sie alle sind nun in einer Ausstellung vereint und stimmen im Kanon ein ganz neues Lied an: ein verfremdetes. Denn in dieser geballten Ladung geht ihnen irgendwie das Eigene, das Einsame verloren. Sie hängen zu eng und sind einfach für die kleinen Räume zu groß. Viel schöner und intimer ist es, in dem Begleitbuch zur Ausstellung „Warten. Orte des Erinnerns" zu blättern, das Jürgen Haese im quartus-Verlag heraus gab. Hier hat jedes Häuschen seine ganz eigene Seite und gern liest man auch die ganz persönlichen Geschichten zu den Fotos. Wie die von Waltraud M.: „Fast zwei Kilometer mussten wir jeden Tag gehen, jahrelang, Peterle und ich, nur wir beide. An der B 180 sammelte uns dann der Schulbus ein. Auf diesen Wegen lernten wir die Liebe kennen; erst zögerlich, ängstlich; dann konnten wir es kaum noch erwarten, bis wir die Haltestelle, unser Häuschen, erreichten ..." Inge G. winkt indes allein bei dem Gedanken an ihre Bushaltestelle entnervt ab: „Gehn“se mir bloß weg mit der Pappbude! Jahrelang nischt wie Ärger. Die LPG wollte einfach kein vernünftiges Material rausrücken, nur die Presspappe. Nach tagelangem Regen klappte sie zusammen, weich wie das ,Neue Deutschland“. Ich selbst hab“s erlebt: nach einer Stunde Fußmarsch bei Regen und Wind – sie war weg, einfach weg, vom Sturm weggeweht, 100 Meter weit!“ Da erging es Reinhold B. besser: „Organisation war alles! Sie kennen den Satz: Eine Hand wäscht die andere! Die DDR lebte von Schachergeschäften! Ein Werk in Berlin-Weißensee lieferte uns die fertigen Buden und wir schaufelten für die Berliner Kollegen in Bad Köstritz ein paar Ferienplätze frei. So lief das!“ Es sind diese kleinen Geschichten, die die Haltestellen-Bilder beseelen, sie aus der Dämmerung vergangenen Zeiten hervor holen. Die Reihe der grau-braunen, oft zugewachsenen und verwaisten „Relikte“ wird in der Fotoserie von einem rot strahlenden „Fremdkörper" aus Stahl und Glas beschlossen. Dieses moderne Nachwende-Konstrukt ersetzte das „kleine, kuschlige Wartehäuschen", an das Christiane H. ihre Erinnerungen knüpfte. „Jetzt sieht alles so aus wie in Ostfriesland – chic, zweifellos, aber für uns gewöhnungsbedürftig." Aber auch diese neuen Wartehäuschen werden sicher in „Besitz" genommen. Denn sie sind rar – diese einsamen Orte des „Wartens“. Heidi Jäger Jürgen Haese Warten. Orte des Erinnerns, quartus-Verlag, 12.40 €, im al globe bis 30. November.

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