
© I. Andriessen-Beck/Zeitstimmen
Kultur: „Wie eine Enzyklopädie des Alltags“
Peter Walther über Zeitstimmen, das Portal für Literatur- und Alltagsgeschichte in Berlin und Brandenburg
Stand:
Herr Walther, seit Anfang Dezember ist unter dem Titel Zeitstimmen das Portal für Literatur- und Alltagsgeschichte in Berlin und Brandenburg online. Was hat es damit auf sich?
Wir geben mit Zeitstimmen die Möglichkeit, das Land Brandenburg aus doppelter Perspektive zu entdecken. Zum einen aus der Sicht der Bewohner mit ihren Tagebüchern, Erinnerungen und Alltagsfotografien. Zum anderen aus der Perspektive von Schriftstellern, die in Brandenburg gelebt und über Land und Leute geschrieben haben. Das allein umfasst knapp 1000 literarische Texte. Das alles ist im Laufe der vergangenen 20 Jahre entstanden.
Was gab vor 20 Jahren den Ausschlag für diese Datensammlung, die mittlerweile Texte und Bilder aus über 1200 Orten in Brandenburg umfasst?
Der literaturgeschichtliche Teil der Sammlung geht auf das Jahr 1994 zurück, als wir im Brandenburgischen Literaturbüro eine Ausstellung über den Dichter Peter Huchel vorbereitet haben. Damals ist sehr viel Material zusammengekommen, regionalbezogene Informationen, die in keinem Nachschlagwerk zu finden sind. Im Laufe der Jahre kamen weitere Ausstellungen und Bücher hinzu, zum Beispiel über den Dichter Günter Eich oder über Goethe und Brandenburg, und das Material wurde immer mehr und die Bezüge immer dichter. Inzwischen haben wir über 3000 Autoren recherchiert, die entweder in Brandenburg geboren sind, hier gelebt haben oder über die Region geschrieben haben. So war die Idee naheliegend, die Informationen in einer Datenbank zusammenzutragen, wie in einer Art Setzkasten, der auch von anderen genutzt werden kann.
Auch Sagen wurden in dem Portal berücksichtigt. Wie weit reichen denn diese literarischen Brandenburgbezüge in die Geschichte zurück?
Die literarischen Texte gehen bis auf das 11. Jahrhundert zurück. Sie finden aber auch alle Bände von Fontanes „Wanderungen durch Brandenburg“ auf dem Portal mit allen Orten, die Fontane bereist hat. Wenn Sie etwa nach „Paretz“ suchen, können Sie das entsprechende Kapitel aus den „Wanderungen“ lesen, können darin natürlich auch weiterblättern zum nächsten Kapitel, in dem Fontane über Etzin schreibt, oder Sie schauen sich das knappe Dutzend Privatfotos aus Paretz und Etzin an, die uns zugesandt wurden. Wo auch immer Sie gerade stöbern – eine Karte, die mitangezeigt wird, gibt Ihnen die topografische Orientierung.
Warum haben Sie neben der umfangreichen Literatur auch Tagebücher und Fotografien auf dem Portal Zeitstimmen veröffentlicht?
Mit dem Sammeln von Tagebüchern haben wir 2008 begonnen und über zwei Jahre hinweg circa 120 Tagebücher zusammenbekommen. Über 6000 Tagebucheinträge lassen sich jetzt auf dem Portal abrufen. In den vergangenen zwei Jahren haben wir dann zahlreiche Fotografien in Vorbereitung auf die aktuelle Ausstellung „Kindheitsbilder. Alltagsfotografie in Brandenburg seit 1848“ im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte zusammengetragen. Davon haben wir über 3000 Aufnahmen für das Portal digitalisiert. Denn das Ziel von Zeitstimmen besteht darin, dass hier mit der Zeit eine Enzyklopädie des Alltags entsteht.
Wie ist das Portal für Literatur- und Alltagsgeschichte in Berlin und Brandenburg strukturiert?
Wir haben die literarischen Texte, die Tagebucheintragungen und die Bilder nach Tag und Thema, Ort, Zeit und Verfasser gegliedert und so recherchierbar gemacht. Natürlich liegt bei den Bildern, bedingt durch die Ausstellung, derzeit ein Schwergewicht auf den Kindheitsmotiven. Aber hier wollen wir mit der Zeit alle Aspekte des Alltags berücksichtigen. Schon jetzt sind Bilder von den Gewerken zu den unterschiedlichsten Zeiten auf dem Portal zu finden. Wie sah es vor 70, 80 oder 100 Jahren in einer Bäckerei oder in einer Gastwirtschaft aus? So haben wir beispielsweise Fotos von einer Autowerkstatt und Tankstelle aus den 20er- und 30er-Jahren. Das ist hochinteressant zu sehen, mit welcher Technik damals gearbeitet wurde. Wir hoffen, dass so ein lebendiges Zeitbild in den unterschiedlichen Jahrzehnten in Brandenburg entsteht.
Wen sprechen Sie mit dem Portal an?
In erster Linie sind das natürlich zeithistorisch und literaturgeschichtlich interessierte Nutzer. Gleichzeitig glaube ich, dass man so auch die regionale Identität stärken kann, weil Zeitstimmen selbst über kleine Orte viele bisher unbekannte Informationen anbietet. Und natürlich ist das Angebot auch für Touristen interessant, die sich über Brandenburg allgemein und über bestimmte Orte informieren möchten.
Wie geht es jetzt weiter mit Zeitstimmen?
Der literaturgeschichtliche Teil ist mehr oder weniger abgeschlossen. Doch suchen wir nach wie vor weiter nach Fotos, Erinnerungen, Tagebüchern und Briefen, die geeignet sind, den Alltag in der Region in seinem Wandel zu illustrieren. Nichts ist unwichtig, häufig sind es gerade durch Zufall aufs Bild oder ins Tagebuch gekommene Details, die aus dem Abstand der Jahrzehnte bedeutend sind. Das ist ein ungehobener Schatz. Natürlich wirft jedes einzelne Foto, jeder Tagebucheintrag ein sehr subjektives Licht auf die jeweilige Lebenssituation. Für sich gesehen ist deren Quellenwert begrenzt. Doch im Zusammenspiel der verschiedenen Perspektiven lässt sich ein relativ objektives Bild nachzeichnen von dem, was den Alltag der Menschen in Brandenburg geprägt hat.
Das Gespräch führte Dirk Becker
Weitere Informationen im Internet unter www.zeitstimmen.de
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