Als er die Kneipe verließ, klopfte er auf den Tisch und sagte kurz: „Tschüss. Ich hau jetzt ab“. Zehn Minuten später klopfte es an der Tür der Georges. Als Tochter Tatjana öffnete, stand dort ein Polizist und meinte zu ihr: „Ihr Vater sagte, er will Republikflucht begehen.“
„Mein Vater ging damals an Krücken, was die Absurdität noch toppte“, erzählt Tatjana Lau am Donnerstagabend in der Orangerie des Schlosses Glienicke. Dort wurde die Dokumentation „Im Schatten der Mauer“ aufgeführt, in der auch über die Georges erzählt wird. Zuschauer strömten herbei, aus Ost und West, und mussten teilweise stehen, weil es zu eng vor der Leinwand wurde. Dieser 19-minütige Film passte bestens in die Ausstellung „Hinter der Mauer. Glienicke – Ort der deutschen Teilung“, die dort bis 3. Oktober zu sehen ist. Er gab den aufwühlenden, aber stillen Zeugnissen an der Wand eine authentische Stimme.
Beate Neumann war Studentin an der Babelsberger Filmhochschule, keinen Steinwurf von Klein Glienicke entfernt, als sie ihre Dokumentation im Frühjahr 1990 drehte und die DDR wie im Reagenzglas erlebte. Sie widmete den Film ihrer drei Monate alten Tochter Julia, „damit sie sich später ein Bild von dem Unvorstellbaren machen kann, wenn die Mauer nur noch ein abstrakter Begriff aus dem Geschichtsbuch ist“. Die Studentin hatte die Tochter beim Drehen ständig dabei, stillte sie zwischen den Aufnahmen. Heute ist Julia 21 und studiert ebenfalls. Sie sah am Donnerstag den Film das erste Mal. „Allzu große Berührungspunkte habe ich nicht“, räumt sie ein, doch der Film habe ihr gefallen. „Man kann sich schwer vorstellen, dass alles so kontrolliert wurde.“ Unter Freunden sei die Mauer kaum ein Thema, aber sie schaue Dokumentationen, spreche in der Familie über die Zeit, sagt sie.
Beate Neumann organisierte 1990 kurzerhand einen Skoda, weil nur der seinen Gepäckraum vorne hatte. Dort setzte sich der Kameramann hinein und filmte das Geisterbahn-Feeling der endlos scheinenden Betontrasse. Alles musste schnell gehen, bevor die Mauer ganz verschwand. In dem Film kommt neben der zwischen Plüschtieren und akkurat aufgereihten Sofakissen sitzenden Oma George und ihrem vierjährigen Enkel Robert, der heute „auf der Seite des Klassenfeindes“ Bundeswehrsoldat ist, ein ehemaliger Passkontrolleur zu Wort. 22 Jahre versah er an der Grenze seinen Dienst. „Veränderungen waren nötig, aber mit diesem Tempo und mit dieser Ungewissheit sicher nicht“, sagt er und fühlt sich mit 41 Jahren zum alten Eisen geworfen. Auch ein Neuangesiedelter erzählt. Er bezog – man ahnt, in welchem Auftrag – ein Haus, aus dem Alteingesessene kurzerhand rausgeschmissen wurden. Man machte sich schnell verdächtig an dieser engsten Stelle der DDR, in der jeder den anderen beäugte. Klein Glienicke galt als Sondersicherheitszone. In den Westen abzuhauen war ein relativ leichtes Spiel. Also sollten sich die Leute selbst bewachen. „Aber nicht alle haben sich bespitzelt“, stellt Tatjana Lau klar. Sie erzählt, dass einmal im Monat kontrolliert wurde, ob jemand einen Tunnel in seinem Keller baut oder eine zu lange Leiter besaß, die natürlich konfiziert wurde. Der Film regte eine spannende Diskussion an: zwischen Ost und West, Alt und Jung, Vertriebenen und Dagebliebenen. Er sollte als DVD herausgebracht werden, schlug ein Gast vor. Die Potsdamer Filmhochschule werde sich darum kümmern, versprach eine Vertreterin.Heidi Jäger
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