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Kultur: Winter mit Balkon

Lothar Binger erforscht für eine Ausstellung Im Güldenen Arm die Potsdamer Balkonkultur und hofft auf Mithilfe

Es ist Balkon-Zeit. Mitten im Winter. Nicht nur der neue Dresen-Film stimmt ein Hohelied auf die „Gartenminiatur“ an. Auch der Kleinmachnower Kulturhistoriker Lothar Binger trotzt gedanklich der Eiszeit und lässt sich die lauen Balkonwinde um die Nase wehen.

Seit Wochen durchforstet er die Brandenburgica, um der Potsdamer Balkonkultur auf die Spur zu kommen. Denn im September soll es im „Haus zum Güldenen Arm“ eine Ausstellung geben: mit „Blickpunkt Balkon“. Das Kulturland Brandenburg ebnete dem umtriebigen Kleinmachnower dazu den Weg. Schließlich steht das Jahr ganz im Zeichen der Architektur, und da darf auch der Balkon seine erhobene Positur behaupten.

Lothar Binger fängt in seinen Erkundungen nicht bei Null an. Schließlich hat er mannigfache Ausstellungserfahrungen. Und auch in puncto Balkon ist er kein unbeschriebenes Blatt. Er hob bereits den Schatz der Berliner Balkonkultur – und hielt ihn in Wort und Bild fest. Die Berliner Baumeister im königlichen Auftrag trifft er nun auch in Potsdam wieder, allen voran Schinkel, Knobelsdorff oder Jean de Bodt. Schinkel war es, der die in Potsdam weit verbreiteten Deckelvasen von den Dachgesimsen auf die Balkone herunter holte und sie zwecks Bepflanzung entdeckelte. So konnten vor allem die prachtvollen Agaven der herrschaflichen Austritte zur Zierde gereichen. „Es war Friedrich der Große, der Potsdam geradezu mit Vasen ,bepflasterte“. Vielleicht ein Ausruck seiner Schnupftabaksucht – die er damit auf die Dächer hob. Natürlich noch gedeckelt, wie es sich für den Absolutismus gehörte.“

Sechs noch verschlossene Vasen schmückten auch den Balkon des Noackschen Hauses (Baujahr 1777) in der damaligen Humboldtstraße 4 – direkt neben dem Palais Barberini. Dieser Balkon ist der erste, der in seiner Nutzung beschrieben wurde. Henriette Huguenel, Tochter des Lederfabrikanten Huguenel, hielt in ihrem Tagebuch 1818 fest: „Sonntag, den 28. Mai, machte ich mit mehreren jungen Mädchen eine Morgenpromenade nach dem Neuen Garten. Wir tranken in der Meierei Kaffee. Dort wurde ein Kranz gewunden und dann fertigten wir Lose mit Zahlen an. Wer die höchste Nummer zog, bekam den Kranz, und einem alten Brauch nach wurde diejenige zuerst Braut. Das Los traf mich. Am 9. Juni gingen wir nach Neuendorf, um dort Schafmilch zu trinken. Zurückgekehrt saßen wir mit Fräulein Stöwes auf unserem Balkon“. Aufzeichnungen, die natürlich in der geplanten Ausstellung samt Begleitbuch ihren Niederschlag finden werden. Wie auch der erste Potsdamer Balkon an einem Bürgerhaus: am heute noch existierenden Knobelsdorff-Bau Am Alten Markt. Vor allem hofft Lothar Binger aber, dass die Potsdamer in ihren Schränken nach alten Fotografien mit Balkonimpressionen kramen, die der Schau das nötige Lokalkolorit verleihen würden.

Berlin erwies sich da als echte Fundgrube. Bingers umtriebiger Geist ließ ihn vor allem auch auf Flohmärkten fündig werden. Seine 1700 Fotoalben, die er aufstöberte, füllen einen ganzen Raum. „Ich denke, es ist die größte Fotoalben-Sammlung, die es gibt.“

Dass er sich nun gerade zum Thema Balkon aufschwang, hat natürlich eine Vorgeschichte. Bereits seit 25 Jahren verfolgt der Kulturhistoriker alltagsgeschichtliche Projekte. Dazu angestiftet wurde er vom französischen „Kulturlabor“, einem Mobil, das in verschiedenen Gemeinden Halt machte, um mit den Menschen vor Ort Kulturprojekte zu entwickeln. Damals verfolgte er noch als Dozent am Institut für Theaterwissenschaften der FU Berlin diese Theatralik des Alltags. Die Lehre mündete in eigene Projekte und so widmete er sich dem Thema Borsig und Borsigwalde. Das gesamte Alltagsleben blätterte sich plötzlich dank der Mithilfe der Borsianer vor ihm auf: von der Kinderbetreuung bis zum Notfriedhof. Die bekannte Lokfabrik wollte ihre Belegschaft an sich binden und war so bis ins Privatleben hinein mit der Belegschaft verbandelt. „Wir bauten für dieses Projekt einen Seniorenkreis auf, der so lange existierte, bis das letzte Mitglied verstarb.“ Binger gelang es, die Menschen für ihre eigene Geschichte zu interessieren.

Bald folgten weitere Projekte, wie das über die S-Bahn, die trotz Mauer Ost und West verband. Trotz strengstem Verbot, Brücken und Bahnhöfe zu fotografieren, begab sich der damalige Westberliner zu den Endbahnhöfen auch in Nauen oder Fürstenwalde, um sie abzulichten. Nur in Werneuchen wurde er des Ortes verwiesen. Wieder suchte er auch gezielt auf Trödelmärkten nach Fotomaterial. Dabei stieß er auf Aufnahmen von 1905, die von elf Standorten auf der Galerie des Berliner Doms die Stadt von oben überlappend zeigten. „Das Selbe wiederholte ich dann 2005.“ Der Blick in die Höfe offenbarte natürlich auch die Balkonpracht. Und da es bislang keinerlei Material zu diese Freiluft-Oasen gab, vertiefte er sich in die bauhistorische, politische und natürlich in die Alltagsgeschichte. Die ersten Balkone sind auf einem Stich von 1592 des Berliner Schlosses zu sehen. „Auf ihren Balkonen ließen sich die Könige gern von den Ständen huldigen. Am 19. März 1848 kippte diese Situation allerdings um. Nun musste sich der König verneigen: vor den vielen Toten“, so Binger. Als das Berliner Schloss 1950 abgerissen wurde, rettete man Portal und Balkon, um sie am Staatsratsgebäude der DDR einzusetzen: „Schließlich trug der Balkon ja auch die Erinnerung an Liebknecht, der von dort die freie sozialistische Republik ausrief.“

In Potsdam spiegelt sich die Politik nicht im Lichte der Balkone. Die Stadt im Grünen war den Preußenkönigen vor allem Refugium der Erholung. Und da brauchte man nicht unbedingt einen Balkon angesichts der stattlichen Parks. Das Schloss hatte jedenfalls keinen Balkon – anders als das Neue Palais. Ob er aber je genutzt wurde, sei nicht belegt.

Die Könige hielten es ohnehin sehr unterschiedlich: Friedrich I. brauchte keine Aussicht. Ihn interssierten nur seine Soldaten. Friedrich II. war schon ambivalenter: Er errichtete das erste Belvedere auf dem Klausberg, besuchte es indes kaum. „Erst in der Romantik, mit dem ersten ,Bürgerkönig“ Friedrich Wilhelm III., bekam das Private größeren Stellenwert. Man gestattete sich, auch die Aussicht auf die Natur zu genießen,“ sagte Binger.

Die Begrünung der Balkone beginnt um 1820/30 mit Schinkel. Die vorher an die Wände geputzten Pflanzen durften nun ganz real sprießen. Auch das Bürgertum wurde nach den Befreiungskriegen selbstbewusster und zeigte sich ohne Hemmungen auf halb öffentlichem Terrain. Die schönen Aussichten boomten mit der Entwicklung der Eisenbahn. Es reisten immer mehr Touristen in die Stadt, und die Hotels und Restaurationen dankten mit herrlichen Blicken von ihren Balkonen und Dachterrassen.

Auch in Potsdam schlummern sicher Geschichten, die das Balkonleben in ihrer Vielfalt spiegeln. So wie die des Ehepaars Isensee, das von seiner Loggia in der Burgstraße 1 mit Havelblick eines nachts einen oval-lila Mond erspäte: einen richtigen „Pflaumenmond“. Bei genauerer Betrachtung erwies er sich indes als erleuchtetes SED-Emblem am „Kreml“. Um weitere Erinnerungen aufzustöbern, wandte sich Lothar Binger auch an den Zirkel „Zeitzeugen“ beim Seniorenbeirat der Stadt. Auch für diese Hobbyschreiber ist also Balkonzeit angesagt. Den Schneeflocken zum Trotz.

Wer Material zum Balkon-Thema beisteuern kann, sollte sich an Dr. Lothar Binger wenden: Tel. 033203-77788.

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