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Kultur: Wüstenmaus lebt nicht von Büchertischen Tag der offenen Tür

Kultur, Geist, Wissenschaft lassen sich nicht abfeiern wie ein Stadtwerke- fest bei den Geisteswissenschaften am Neuen Markt

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„Potsdam – Stadt der Wissenschaft“, steht auf dem hellblauen Faltblatt, das zum Tag der offenen Tür einlädt. Ein stolzes Bekenntnis auf blassem Grund. Ein paar Touristen schlürfen an den schönen Hauseingängen vorbei, die zum Moses-Mendelssohn-Zentrum (MMZ), den Forschungsstellen der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften oder dem Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) führen. Hier stehen Büchertische. Das Fontane-Archiv sitzt noch bis zum Umzug in die Villa Quandt am Bassinplatz. Heute ist es mit einem Büchertisch und zwei Vorträgen zur Geschichte des Archivs dabei. Ebenso das Deutsche Kulturforum östliches Europa. Büchertisch. Um vier gibt es aber noch eine Führung durch das Kabinetthaus. Und schräg gegenüber, bei den Zeithistorikern: Wieder Büchertisch.

Das Motto des Tages „Kultur – Geist – Wissenschaft“ lässt sich nun mal nicht abfeiern wie ein Stadtwerkefest. Die Institute mit ihren hoch spezialisierten Wissenschaftlern mühen sich nach Kräften. Sie halten Vorträge, erklären zuvorkommend, freundlich und mit Humor. Aber wie man Hunderte, oder besser Tausende Nichtakademiker für ihre Arbeit interessiert, weiß hier niemand. Und in der Stadtverwaltung offensichtlich auch nicht.

Die Einrichtungen, dazu das Filmmuseum und das Haus der Brandenburgisch Preußischen Geschichte (HBPG), haben sich zusammen ein Preisrätsel einfallen lassen. Fragen der Art: „Welche Schrift wird derzeit erstmalig in Kants gesammelten Schriften ediert?“ Antwort: die Vorlesungen über Physische Geographie. Zu gewinnen gibt es eine Eintrittskarte vom Filmmuseum, eine Packung – Wissenschaftlerhumor – Leibniz-Vollkornkekse und natürlich Bücher. Die Siebzehn, die sich am Rätsel beteiligt haben, können am Ende des Tages unter 19 Preisen wählen.

Im Filmmuseum fand morgens schon eine kostenlose Führung durch die ständige Ausstellung statt. Wer später hinein wollte, zahlte wieder Eintritt. Im Kinosaal wird ein Film zu einem Tanzprojekt gezeigt, das die F. C. Flick Stiftung gefördert hat. Sie will Kinder gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus stark machen. Auf der Leinwand laufen Hunderte Kinder zu schräger Musik über die Bühne. Mal im Kreis, mal durcheinander. Im Kino ist es stockdunkel – und leer. Eine einzige Familie hat Platz genommen. Der Vater übt mit dem Kleinsten Laufen.

„Was bedeutet eigentlich das Wort Sure?“, fragt eine der zwei Zuhörer, die den Weg in den Vortragsraum unter dem Dach des MMZ gefunden haben, den Koranforscher Michael Marx. Er arbeitet am Corpus Coranicum, dem ersten Langzeitforschungsvorhaben zum Koran in Deutschland. 18 Jahre Zeit nimmt man sich bei der Akademie der Wissenschaften dafür. Sure bedeute Koran-Kapitel, aber woher das Wort selbst stamme, wisse niemand, so der Forscher.

Die Mitarbeiterin von der Arbeitsstelle für Glasmalereiforschung, auch ein Akademie-Projekt, ist im Gespräch mit einem Besucher. „Glas hat den Nachteil“, erläutert sie, „wenn es kaputt ist, dann ist es richtig kaputt.“ Hier gibt man bald einen prächtigen Band zu den historischen Kirchenfenstern im Lande heraus.

Im ZZF wird das Projekt „Zeitgeschichte online“ vorgeführt. Für jedermann sind die Daten und Texte zur RAF oder den Mauertoten im Internet einsehbar. Matthias Judt hält einen Vortrag über „Honeckers Konto“. Rund drei Milliarden D-Mark, gespeist durch Geld, das durch Gefangenenfreikäufe der Bundesrepublik eingenommen wurde. Ursprünglich diente es dazu, der DDR-Bevölkerung ab und zu etwas Wohlstand in Form von Orangen oder Westautos zu bringen. Honecker selbst hatte gar keinen Zugriff. Und Lustreisen wurden davon garantiert nicht bezahlt, weiß Judt.

Im HBPG wartet die Kunsthistorikerin Diana Kresse vergeblich auf Kinder, die sie durch die Brandenburg-Ausstellung führen könnte. Warum die Wüstenmaus nicht in der märkischen Streusandbüchse leben kann? Weil Brandenburg ein viel zu fruchtbares und reiches Land sei.

Matthias Hassenpflug

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