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Kultur: Zerreißprobe für die Liebe

Anna Justice kommt am Donnerstag zum Gespräch über ihren Film „Die verlorene Zeit“ ins Thalia

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Manchmal kam ihr der Gedanke, einfach alles hinzuschmeißen, wenn mal wieder das Geld nicht reichte. Wie in den Straßen von New York, wo sie ohne Ton drehen mussten, weil sie die gewerkschaftlich festgelegten Preise für den Tonmann nicht bezahlen konnten. Doch das waren immer nur kurze Momente. Sofort sah Anna Justice dann das Gesicht ihres inzwischen verstorbenen Vaters vor Augen, seinen enttäuschten Blick, der zu sagen schien: Du gibst auf! Anna Justice gab nicht auf. Dieser Stoff, der auch viel über die eigene Familie erzählt, gehörte einfach auf die Leinwand. Und die Zuschauer geben ihr Recht. Schon zwei Publikumspreise erhielt sie auf Festivals: in San Francisco und in Schwerin – für diese so einzigartige Liebesgeschichte, der eine wahre Begebenheit zugrunde liegt.

Sie nahm 1944 in Polen ihren Anfang. Im Konzentrationslager, wo sich der junge politische Häftling Tomasz und die Jüdin Hannah begegneten. Sie mussten ihre Gefühle verstecken: nicht nur vor der SS, sondern auch vor den neidischen Blicken der Mithäftlinge. „Denn unter extremen Bedingungen neigen die Menschen auch zu extremen Verhaltensweisen“, so die Regisseurin. Den beiden Liebenden gelingt das Außergewöhnliche, die Flucht. Umso abwegiger erscheint es, dass sie sich dabei verlieren. Und noch größer ist der Zufall, dass Hannah, inzwischen in Amerika glücklich verheiratet, 30 Jahre später glaubt, in einem Fernsehinterview ihren einstigen Geliebten wiederzuerkennen. Was macht man mit alten wiederaufflammenden Gefühlen? Wie lassen sie sich mit dem jetzigen Leben vereinbaren? Kann verlorene Zeit aufgeholt werden? Fragen, die Anna Justice hin- und herbewegte und denen sie auch jetzt im Gespräch noch nachsinnt.

Vier Jahre arbeitete sie an dem Film. Und machte es sich unabhängig von der Finanzierung zusätzlich schwer. Um eine höchstmögliche Authentizität zu erreichen, ließ sie die Schauspieler in dem untertitelten Film ihre eigenen Sprachen sprechen: Deutsch, Polnisch, Englisch. Nicht leicht, da die Fäden in den Händen zu behalten. „Aber über Sprache erschließen sich ganz neue Welten. Sprache hat ganz viel mit mir zu tun“, sagt Anna Justice, die inzwischen mit Leidenschaft Polnisch lernt und sich gut vorstellen könnte, in Warschau zu leben. „Wären meine Kinder hier nicht so verwurzelt.“

Anna Justice, die mit dem Schauspieler Florian Lucas und ihren beiden halbwüchsigen Kids bei Potsdam lebt, empfand jahrelang Kalifornien als ihre zweite Heimat, wo sie fotografierte, malte und in den verschiedensten Berufen arbeitete, doch nie recht wusste, wohin das führen würde. Erst mit ihrer Rückkehr nach Deutschland und dem Regiestudium kam die Gewissheit. Gerade weil sie so vieles ausprobiert hatte, kann sie sich heute sehr schnell in ihre Filmfiguren hineindenken.

Bislang hat die eher zurückhaltende Frau, die lieber über ihre Filme als über sich selbst erzählt, vor allem für das Fernsehen gearbeitet. Ihr siebter langer Spielfilm ist nun nach „Max Minsky und ich“ der zweite fürs Kino. Der bekannte Kameramann Michael Ballhaus brachte sie für „Die verlorene Zeit“ als Regisseurin ins Gespräch. „Die Geschichte kam zu mir, und das ist kein Zufall.“ Sie ist zugleich eine Zeitreise in die Vergangenheit ihres Vaters, der sich als Kind nur durch Verstecken vor den Nazis retten konnte. „Mein Großvater war Nichtjude und weil er Einfluss und Geld hatte, gelang es ihm, seiner Frau, Sohn und Tochter zu helfen.“ Andere Mitglieder der Familie wurden indes deportiert und kamen nicht zurück.

„Ich führte in Vorbereitung auf die Dreharbeiten ganz tolle Gespräche mit meinem Vater. Durch intensive Recherchen zum Thema konnte ich ihm ganz andere Fragen stellen.“ Gerade auch für ihn musste sie sich in den Film hineinwerfen, obwohl sie wusste, dass es für dieses Thema schwierig sein würde, Fördergeld zusammenzubekommen. „Sobald Produzenten denken, es ist ein Holocaust-Film, wollen sie sich damit nicht abgeben.“

Doch gemeinsam mit Sven Woldt und den Associate Producer Michael Ballhaus schafften sie es schließlich, „Die verlorene Zeit“ trotz sich immer wieder verzögernder Dreharbeiten zu realisieren. Auf ihrer Filmreise zeigte sich, dass die Zuschauer durchaus Interesse für diese Geschichte hatten. „Die Kinos waren voll, in Amerika ebenso wie in Hongkong.“ Und das hofft Anna Justice natürlich auch von Babelsberg, wo sie am kommenden Donnerstag im Thalia zum Filmgespräch eingeladen ist.

Die Zuschauer werden dabei nicht von der Vergangenheit erschlagen, verspricht die Filmemacherin. „Es geht vor allem um die Liebe und um das Überleben in schwierigen Zeiten.“ Dennoch wollte sie möglichst viel Historisches einfließen lassen, „gerade weil wir so wenig darüber wissen, was die Polen unter der deutschen Besatzung durchgemacht haben.“

Neben der Sprache war ihr wichtig, dass auch die Drehorte so authentisch wie möglich erscheinen. Da man in ehemaligen Konzentrationslagern nicht drehen kann, weil sie entweder zerstört wurden oder heute als Museum dienen, nutzte sie in eine alte Papierfabrik im Wendland. Auch die Umgebung war geeignet, polnisches Kolorit einzufangen. „In Polen konnten wir leider nicht drehen, da wir zu spät Koproduzenten fanden.“ Aber die Vegetation und Architektur im Wendland sei der polnischen sehr nahe. Auch Schnee haben sie dort hineingezaubert, denn Jahreszeiten spielen auf der Flucht eine große Rolle. „Ich habe aufgepasst wie ein Schießhund, das alles möglichst echt aussieht. Viele Polen, die den Film gesehen haben, glauben, dass er tatsächlich in ihrer Heimat gedreht wurde.“

Lange wurde in Anna Justices Elternhaus über die Geschichte ihres Vaters geschwiegen. Dieses Schweigen spielt auch in die Figur der Hannah hinein, das Schweigen der Opfer, die sich vor ihren traumatischen Erinnerungen schützen möchten. „Dagmar Manzel spielt diese Zerrissenheit einfach toll“, schwärmt die Regisseurin, die nun gern auch einen Film über das deutsch-polnische Verhältnis im Hier und Heute machen möchte. Jetzt wünscht sie sich aber erst einmal von den Potsdamern, dass selbst jene, die sich geschworen haben, nie wieder einen Film über den Holocaust zu sehen, für ihre so unglaubliche Liebesgeschichte eine Ausnahme machen.

Den Ton aus den Straßen New Yorks hat ihre Crew am Ende mit der Videokamera aufgenommen und mit Geräuschen aus dem Archiv nachsynchronisiert. So absurd ist mitunter Filmarbeit. Doch Anna Justice kann aufatmen. „Die verlorene Zeit“ ist im Kino. Ihr Vater wäre sicher mit ihr zufrieden gewesen.

Filmgespräch am Donnerstag, 1. Dezember, im Anschluss an die 19-Uhr-Vorstellung, Thalia, Rudolf-Breitscheid-Straße

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