Potsdam-Mittelmark: Der ganz normale Wahnsinn
Gero Jacobs und Manfred Thieleke fahren einen der neun Videowagen der Polizei in Brandenburg
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Potsdam-Mittelmark - Die Tachonadel nähert sich der 210. Eine leichte Kurve, der Turbodiesel schneidet die leere Mittelspur. Doch Gero Jacobs bleibt dran. „Jetzt beginnt es, Spaß zu machen“, sagt er trocken. Sein Beifahrer Manfred Thieleke fixiert den 3er BMW Touring auf dem kleinen Bildschirm neben den Armaturen, der sich gerade durch zwei 120-Schilder fädelt: „235“, sagt Thieleke. „So schnell kann ich gar nicht schreiben, wie der fährt.“ Zwei sich überholende Laster rücken ins Blickfeld, die dritte Spur ist plötzlich von Autos versperrt, die deutlich langsamer unterwegs sind. Bremsen werden strapaziert, Gurte straffen sich. Gero Jacobs nutzt die Situation, um kurz darauf an dem Verkehrssünder vorbeizuziehen. Auf der Hutablage klappt ein Schild hoch. „Polizei Bitte Folgen.“
Man stellt sie sich als Abenteurer vor, verschlissene Kino-Helden mit gegelten Haaren und Whisky in der Stimme. Doch Gero Jacobs und Manfred Thieleke wirken gesetzt in ihren Poloshirts, einer hell- und einer dunkelgestreift. Beide sind über 50, kommen aus Bergholz-Rehbrücke und Werder (Havel), waren schon in der DDR mit dem Funkwagen oder bei der Unfallbereitschaft unterwegs, später bei der Autobahnpolizei oder der Blitzertruppe. Über Fahrtrainings qualifizierten sie sich.
Direkt nach der Polizeischule wird niemand in die zivilen Polizeiflitzer gesetzt – die meisten der neun Videowagen im Land Brandenburg sind von Polizisten über 40 besetzt. Jacobs und Thieleke sind seit gut einem Jahr ein Team auf der Autobahn. Selten sind sie eine Schicht umsonst unterwegs, der Preis für viele Erfolgserlebnisse ist die Gefahr.
Auch der Donnerstagmorgen auf der A2 zwischen Ziesar und Wollin ist einer der Einsätze, die sich lohnen. Der Mann in Chinohose und Pinpoint-Hemd ahnt wohl, das mindestens drei Monate Fahrverbot, vier Punkte und 400 Euro Geldstrafe auf ihn warten. Er beschwert sich über die schlechte Beschilderung und fragt, warum auf dem Autobahnabschnitt eigentlich nur 120 gefahren werden darf? Gero Jacobs belehrt ihn gelassen: Das erste Schild steht hinter dem Anschluss Ziesar, ist ein Meter mal ein Meter zwanzig groß. Das nächste folgt an der Ausfahrt Buckautal, das dritte fünf Kilometer vor Wollin. Darunter jeweils das Piktogramm für „Unfallschwerpunkt“ – ein Autocrash – der Grund für das Tempolimit.
Jacobs lässt bei seiner Belehrung nichts aus, während Thieleke im Auto schon mal den Anhörungsbogen ausfüllt: Auch diesmal wird der Fahrer über sein Widerspruchsrecht und die Technik der Videodistanzmessung aufgeklärt. Das genaue Tempo wird erst in einem Computerprogramm berechnet. Das Team ist später im Büro großzügig mit Toleranzen und legt die Messlinien zugunsten des Krefelders an das Auto an: 212 wird auf dem Bescheid von der Bußgeldstelle Gransee stehen. „Das wird kein Gutachter anzweifeln können“,weiß Jacobs.
Nicht selten geben sich Sachverständige und Rechtsanwälte dafür her, für vierstellige Honorare die Identität des Temposünders oder das Messverfahren anzufechten, die Qualifikation der Polizisten anzuzweifeln oder ein Handy zum Brillenetui zu erklären. „Da habe ich gesagt, wenn ihr Mandant mit dem Brillenetui telefoniert, sollte er zur MPU“, erinnert sich Jacobs. Man habe es auf der Autobahn häufig auch mit Rechtsanwälten, Professoren und Geschäftsleuten zu tun, die es eilig haben. Ihr Führerschein ist unentbehrlich. Acht- bis zehnmal im Monat müssen Gero Jacobs und Manfred Thieleke vor Gericht aussagen. „Das kostet Zeit“, so Thieleke. Doch die Videodistanzmessung ist in Brandenburg gerichtlich anerkannt.
Sechsmal fahren sie diesmal die 14,5 Kilometer zwischen Ziesar und Wollin, sechsmal gehen ihnen Raser ins Netz. Ein kaugummikauender Packer wird ihnen begegnen, eine junge Frau aus Liepe, die bettelt, dass sie täglich 30 Kilometer zur Arbeit muss oder ein studentischer Tigra-Fahrer, der bei der Anhörung die ganze Zeit lächelt. Die Polizisten erkennen die Temposünder auch beim Zurückfahren auf der anderen Autobahnseite. „Der Volvo ist gut“, sagt Thieleke dann und zuckt die Schultern. Der Job hat ihm und seinem Kollegen ein untrügliches Gefühl für Geschwindigkeit gegeben.
Die Frühschicht beginnt um 6 und endet um 14 Uhr. Zehn Mann sind im Schichtdienst des Videotrupps vom Schutzbereich Brandenburg beschäftigt, der in Eiche stationiert ist. Zwei hochmotorisierte Wagen stehen zur Verfügung, um Temposündern einen schlechten Tag zu bereiten. Jacobs und Thieleke fahren in einem 5er BMW. „Das ist kein Lamborghini, wie ihn die Italiener haben, aber er tut es“, sagt Jacobs. Wenn bei 250 ein Porsche aus Liechtenstein immer noch kleiner wird, lassen sie ihn aber auch mal fahren. „Man muss verlieren können. Wir verfolgen ja Ordnungswidrigkeiten und keine Schwerverbrecher“, sagt Jacobs. Niemanden zu gefährden sei oberstes Gebot. „Die sollen sich alleine totfahren.“
Zurück nach der Auffahrt Ziesar lassen sie die kleinen Fische vorbeirauschen: Im Radio dudelt leise Karat: „Wenn ein Schwan singt, schweigen die Tiere.“ Im Polizeifunk wird ein Schilderwagen auf der A10 angekündigt, der Arbeiten im Mittelstreifen absperrt. „Die leben noch gefährlicher als wir, vor ein paar Tagen ist wieder einer reingefahren.“ Ein Auto nach dem anderen lassen die beiden sausen, 150 lohnt sich wegen der Toleranzen nicht. Wollin ist nicht mehr weit, als ein VW Passat ahnungslos am Videowagen vorbeisummt. Die Zivilpolizisten nehmen die Verfolgung auf.
182 steht am Bildschirmrand, zugleich werden Zeit und Distanz angezeigt. Thieleke schaut über die Schulter, als sie überholen. „Der telefoniert auch noch.“ Was jetzt kommt, habe die Beiden schon oft erlebt: In der Mittelspur setzen sie sich vor den Passat, das Bitte-Folgen-Schild klappt auf und das Bremslicht leuchtet. Der Passat will sich vorbeidrängeln. „Der merkt es nicht“, schüttelt Thieleke den Kopf. Die Polizisten blinken sich vor den Raser auf die Überholspur. Erst nach etwa zehn Sekunden hat das Spiel ein Ende: Thieleke hat schon die Kelle unter dem Sitz gezückt, um sie aus dem Fenster zu strecken, als die hintere Videokamera einfängt, wie der Mann aus Cloppenburg eilig sein Handy auf den Beifahrersitz wirft und brav abbremst. In Wollin wird er von der Autobahn gefischt.
Im ersten Halbjahr gab es sieben Verkehrstote und 90 Schwerverletzte auf den 180 mittelmärkischen Autobahnkilometern. Der schlimmste hier zwischen Wollin und Ziesar – in Richtung Magdeburg, wo nur eine Richtgeschwindigkeit gilt. „Richtgeschwindigkeiten sind gut für Versicherungen, nicht für Autofahrer“, meint Manfred Thieleke. Drei Tote! Ein 22-jähriger Autofahrer aus Peine war auf einen Lastwagen aufgefahren, durch die Wucht des Aufpralls raste der Lastwagenfahrer durch die Leitplanke auf die Gegenspur, wo er mit einem weiteren Laster frontal zusammenstieß.
Sechs Crashs pro Tag lautet die diesjährige Halbjahresbilanz im Schutzbereich, 992 Unfälle insgesamt auf der südlichen A 10 bis Spandau, der A 9 und der A 2 bis Sachsen-Anhalt und der A 115 zwischen Zehlendorf und Dreieck Nuthetal. 316 wurden von Rasern verursacht, die häufigste Unfallursache auf deutschen Autobahnen ist und bleibt das Gaspedal. Der ganz normale Wahnsinn.
Die Polizeibasis hat schon Ideen, wie man daran drehen könnte. Doch die Vorschläge dieses Videowagen-Teams werden keinen entscheidenden Schreibtisch erreichen: Neben dem Handy sollte auf der Autobahn auch Freisprecheinrichtungen tabu sein. Auf zweispurigen Abschnitten sollte für Laster Überholverbot gelten. Aus Richtgeschwindigkeiten sollten Geschwindigkeitsbegrenzungen werden. Unfallhäufige Abschnitte wie die A 9 zwischen Beelitz und Brück sollten Tempolimits bekommen, oder sogar alle deutschen Autobahn. Für Thieleke und Jacobs ist die Tempofreigabe in Deutschland ein verzichtbarer Luxus.
Andere sehen es vielleicht anders: Als die Polizisten auf dem Rückweg sind, fängt die Kamera unter dem Mittelspiegel am Dreieck Werder eine S-Klasse ein. „Der hat es eilig“, sagt Thieleke, Jacobs klebt sich ran. Auf dem Bildschirm ist die 100-Anzeige auf dem Tempoleitsystem ebenso gut zu erkennen wie die 145 km/h unter dem 500er Mercedes. Der Geschäftsmann ist unterwegs zur Stadtverwaltung Fürstenberg und wirkt beim Aussteigen auf dem Parkplatz am Anschluss Glindow immer noch gehetzt. „Mensch, ich hab mich schon über das Geglucker hinter mir gewundert“, sagt er.
Viele wollen sich rausreden, der Mann aus Rheine auch: Er rechtfertigt sich mit einer Lkw-Kontrolle ein paar Kilometer vor dem Dreieck, bei der das Tempo auf 40 gedrosselt war. „Danach habe ich wieder Gas gegeben“, das Tempolimit am Dreieck habe er dann nicht mitbekommen können. Er ärgert sich. „Im Oktober wären meine Punkte weggewesen.“ Der Führerschein ist jedenfalls länger als einen Monat passé. Die Geschäfte laufen 306 PS langsamer, weniger Termine, weniger Nervenkitzel, weniger Geld, weniger Gefahr, Ruhe. „Mist.“
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