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Potsdam-Mittelmark: Konzert aus Zehntausenden Kehlen

Mit dem Herbst halten Wasservögel Einzug in die Nuthe-Nieplitz-Niederung. Gänse, Kraniche und Co. bieten ein Naturschauspiel

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Beelitz - Der Herbst hat sich langsam über den Naturpark gelegt: Die Wiesen werden wieder feuchter, die Luft ist kühl und klar. Und während die rote Morgensonne durch die Wolken bricht, ertönt ein Konzert aus Zehntausenden Kehlen. Es ist das Gackern, Schnattern und Trompeten der Wasservögel, die in den zahlreichen Seen und Tümpeln übernachtet haben: Gänse, Kraniche, Enten. Mit dem anbrechenden Tag werden sie unruhig – denn das Frühstück auf den Äsplätzen in der Nuthe-Nieplitz-Region wartet. „Es braucht jetzt nur eine kleine Störung – vielleicht ein Fuchs in Sichtweite – und schon fliegen sie los“, sagt Lothar Kalbe. Er hat sein Fernrohr aufs Stativ gestellt und wartet nur darauf. Denn solange die Vögel noch im Wasser stehen, lassen sie sich im Dämmerlicht kaum zählen.

Kalbe ist einer von elf Ornithologen, die am gestrigen Sonntag ab 6.45 Uhr im Naturpark im Einsatz waren: An insgesamt 23 Wasserstellen haben sie mehrere Dutzend verschiedene Vogelarten beobachtet und gezählt. Von September bis April gibt es jeweils zur Monatsmitte einen solchen Termin – und das europaweit. Die Ergebnisse werden in eine zentrale Datenbank eingespeist, sodass sich die Entwicklung der Bestände auswerten und nachvollziehen lässt. 1947 hatte es die erste Zählung in England gegeben. Die Idee verbreitete sich und wurde ab den 1960ern noch koordinierter in die Tat umgesetzt. Auch vor Ort kann man aus den Zahlen Schlussfolgerungen ziehen.

Lothar Kalbe hat sich in der Nähe des Schnepfenpfuhls, mitten im Zauchwitzer Busch positioniert. Die rund zwei Hektar große Wasserlache ist – wie so viele andere – nach der Wende entstanden, als die Schöpfwerke aus Kostengründen abgeschaltet wurden und das Wasser freie Bahn erhielt. Die Natur hat sich ein gutes Stück der einst meliorierten Wiesen zurückgeholt. Dennoch grast eine Herde Kühe am Rand des Tümpels. Von ihnen lassen sich die Vögel nicht stören – und auch die menschlichen Zaungäste scheinen sie nicht weiter zu beeindrucken. „Sie sind es gewohnt“, sagt Kalbe, der hier oft mit dem Fernglas steht. Aber viel weiter als auf die rund 300 Meter ließen sie einen nicht herankommen.

Kalbe hat die Entwicklung der Region hautnah miterlebt und begleitet. Der heute 78-jährige Biologe kam 1958 aus seiner Geburtsstadt Leipzig in die Region, arbeitete hier unter anderem bei der Wasserwirtschaft und wurde nach der Wende Abteilungsleiter für Ökologie und Umweltanalytik im Landesumweltamt. Die Vogelkunde betreibt er seit 1949, wie er sagt. Und schon damals legte er eine sagenhafte Leidenschaft an den Tag: „Es gab kaum Bestimmungsbücher – ich hatte mir alles per Hand abgeschrieben“, erzählt er. Und statt eines Fernglases habe er sich mit einem Opernglas behelfen müssen.

Kalbe ist Leiter der Arbeitsgruppe Ornithologie im Landschaftsförderverein Nuthe-Nieplitz-Niederung – und meist braucht er einen Vogel nicht mal zu sehen, um ihn zu bestimmen. „Hören Sie?“, fragt er plötzlich. Aus der Wurzel eines umgestürzten Baumes dringt ein Fiepen herüber. Ein Eisvogel, erklärt der Experte. Und auch die Gänse im Schnepfenpfuhl kann er spielend unterscheiden – die heimischen Graugänse, von denen rund 40 Brutpaare hier den Sommer verbringen und die nordischen Saat- und Blässgänse, die im September aus Skandinavien und Russland herkommen. Wie lange sie bleiben, hänge immer auch von der Witterung ab, erklärt Kalbe. Zunehmend würden sie im europäischen Binnenland überwintern. Erst wenn der Schnee Überhand nimmt, ziehen sie weiter in südlichere Gefilde.

Plötzlich wird das Trompeten aus dem schilfbewachsenen Moor, weit hinten am Waldrand, energischer. Eine Schar Kraniche erhebt sich in die Lüfte, die Tiere ziehen ihre Bahnen am Himmel. Kalbe stellt sich ans Fernrohr und drückt immer wieder auf den mechanischen Zähler in seiner Hand. Bei Schwärmen in dieser Größenordnung zählt er in Zehner- oder 50er-Schritten. Die Kunst liegt darin, nur die Tiere zu erfassen, die auch von hier aus starten. Denn jene, die nur aus anderen Richtungen vorüberfliegen, hat schon ein Kollege vermerkt.

Die Kraniche haben das Signal gegeben: Nun streben auch die Gänse aus dem Schnepfenpfuhl in Scharen empor und verdunkeln kurzzeitig den gerade erst erhellten Horizont. Konzentriert lässt Kalbe einen zweiten Zähler rotieren. Das Auge ruht auf dem Fernrohr, den braunen Lederhut hat er leicht nach oben geschoben, um besser sehen zu können. Nachdem die Tiere weg sind, schaut er sich noch ein wenig um – und erblickt neben einem Paar Schwäne mit Jungen auch noch zwei Seeadler, die sich in einiger Entfernung auf kahlen Bäumen niedergelassen haben.

Nun geht es per Auto weiter zum nächsten Beobachtungspunkt: Auf einem Holzturm hat Manfred Prochnow Stellung bezogen und behält die Gänselake im Blick. Der Berliner gehört zum festen Kern der insgesamt 20 Nuthe-Nieplitz-Ornithologen. Neben dem Turm, den die Arbeitsgruppe unter einer Kiefer errichtet hat, haben sich weitere Beobachter eingefunden – darunter sogar ein Vogelkundler aus Bayern. Es ist die Vielseitigkeit des 55 Quadratkilometer großen  Schutzgebietes, die eine große Anziehungskraft ausübt. Allein am Himmel kann man rund 120 Brut- und rund 300 Zugvogelarten beobachten, erzählt Lothar Kalbe, während er die Holzleiter hinaufklettert. Er bietet regelmäßig Führungen durch die Region an. „Ich kann die Leute nur für Naturschutz begeistern, wenn ich sie an die Natur heranführe“, so sein Credo. Oben tauscht er sich mit seinem Kollegen aus: Wer hat was gesehen und wie viel? Eine erste Auswertung.

Die Gänselake erstreckt sich über mehr als 50 Hektar – auch sie ist ein Produkt der natürlichen Entwicklung nach 1990. Gern würden Kalbe und seine Mitstreiter den Vögeln noch mehr Raum bieten: Zurzeit wird über eine Wiedervernässung auch der Ungeheuerwiesen bei Stücken diskutiert. Die Pläne treffen vor allem bei den Landwirten auf erhebliche Gegenwehr: Sie wollen das Gebiet weiter als Weideland und für die Futtergewinnung nutzen. Die Gespräche sind zurzeit festgefahren. „Es soll ja nicht alles unter Wasser gesetzt werden“, erklärt Kalbe. Nur seien die Ungeheuerwiesen im Moment eine Brutfalle: Vögel halten im Frühjahr Einzug, und wenn sie sich bis zum Sommer eingerichtet haben, würden die Wiesen trockenfallen – was das Ende für deren Gelege bedeute. „Wir müssen wieder den Dialog miteinander suchen“, wünscht sich der Ornithologe.

Auf dem Rückweg durch den Zauchwitzer Busch gibt es noch allerhand zu entdecken – auch abseits der Gewässer: Auf einem abgeernteten Sonnenblumenfeld haben sich rund 80 Ringeltauben niedergelassen und picken die letzten Kerne aus den Blütenkörben. Unter ihrem Gewicht wiegen die Pflanzen hin und her. Aus dem Gebüsch stößt ein Bussard hervor. Auch ein Habicht ist am Horizont zu sehen. Allerhand Erzählstoff für die Kollegen.

Die finden sich am späten Vormittag in den Räumen des Fördervereins in Stücken ein und versammeln sich um einen großen Tisch. Vor den meisten ruhen Ferngläser, daneben liegen die Notizbücher, in denen jeder seine Beobachtungen festgehalten hat. Der Reihe nach werden die einzelnen Vogelarten abgefragt, wobei sich herausstellt, dass der Riebener See dieser Tage besonders reich bevölkert ist: Neben 20 000 Gänsen hat Beobachter Heinrich Hartong hier mehr als 1000 Enten und Blesshühner gezählt. „War überhaupt noch Platz auf dem Wasser?“, fragen die Kollegen.

Danach berichtet jeder über besondere Beobachtungen. Einer hat gesehen, wie ein Habichtweibchen eine Gans geschlagen hat – die doppelt so groß war wie der Greifvogel. Ein anerkennendes Raunen geht um den Tisch. Eisvögel wurden auch beobachtet – sechs Tiere insgesamt. Durch die strengen Winter der letzten Jahre war der Bestand zuletzt stark eingebrochen, nun hat er sich offenbar erholt. Ein Grund mehr, auf einen möglichst langen Herbst im Naturpark zu hoffen.

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