Von Thomas Lähns: Mit der „Alibaba“ den Wellen getrotzt
Franz Kretschmer aus Wilhelmshorst bereist mit seinem kleinen Kielboot seit Jahrzehnten die Meere
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Michendorf - Talinn, St. Petersburg, Glasgow, London, Kopenhagen: Franz Kretschmer muss seinen Finger schon eine ganze Weile über die Europakarte wandern lassen, um all seine Reisen nachzuzeichnen. Viele Orte hat er auf dem Seeweg erreicht – in seinem zu DDR-Zeiten selbst gebauten und nur acht Meter langen Kielboot namens „Alibaba“. Der weiteste Törn führte den Segler aus Wilhelmshorst, der heute seinen 69. Geburtstag feiert, vor fünf Jahren bis ans Nordkap. „Diese Reise zu toppen wird schwierig“, sagt er.
Hunderte Fotos hat er auf seinem Notebook gespeichert, besondes viele wurden in den letzten Jahren, nach seiner Pensionierung, aufgenommen, und in jedem steckt ein bisschen Fernweh. In seinem Arbeitszimmer im Keller des Hauses in Wilhelmshorst schaut Kretschmer sie durch: Die „Alibaba“ auf der Themse, vor der felsigen Kulisse eines norwegischen Fjords, unter einem Wasserfall. Ein weiteres zeigt einen Delfin, wie er das Boot begleitet. Denn der Skipper wird im Winter zum Dozenten: Während die „Alibaba“ in einer Halle des Potsdamer Segelclubs auf den Frühling wartet, berichtet er in Vorträgen über seine Reise an den Nordkap und die vielen anderen Erlebnisse. Am 28. Februar will Kretschmer im Wilhlemshorster Gemeindezentrum einen Rückblick auf die Reise im vergangenen Jahr werfen, die führte ihn nach London und über Südengland sowie die Nordwestküste Frankreichs zurück durch den Ärmelkanal.
„Ich komme eigentlich aus dem Erz gebirge – da gibt es ja auch Wasser, nur eben in einem anderen Aggregat zustand“, setzt Kretschmer mit Augenzwinkern zu seiner persönlichen Geschichte an. 1950 sei er nach Wilhelmshorst gekommen und habe bald die Havelseen für sich entdeckt. In Potsdam hatte er als Ingenieur beim Zentralinstitut für Astrophysik angefangen. 1964 trat er dem Segelclub Rotation Babelsberg bei, dem heutigen PSV. Mit einem Canadier und einem kleinen Segel ließ er sich damals bis auf die Müritz wehen.
Seit dem wurden die Wege immer weiter. Ein Freund nahm ihn 1972 auf der „Radegast“ mit zu den DDR-Meisterschaften im Seesegeln auf die Ostsee. Bis nach Bornholm durfte man dieser Tage fahren, später wurden die Regeln strenger und die erlaubten Strecken kürzer. Über die Jahre sammelte der Wilhelmshorster Segler seine Erfahrungen.
Boote gab es damals nicht im Handel, sondern sie wurden nach einem Muster hergestellt. Ein solches kaufte er 1982 und nannte es „Alibaba“. 1988 brach der Segler mit der „Alibaba“ gemeinsam mit zwei Freunden zu seinem bis dahin größten Abenteuer auf: Über Talinn wollte er mit zwei Freunden ins damalige Leningrad schippern. „Die Erlaubnis für eine Reise in die ,sozialistischen Bruderländer’ zu bekommen, war nicht einfach“, erinnert sich Kretschmer. Man musste bei den Meisterschaften seine Seetüchtigkeit und bei der zuständigen Behörde seine ehrlichen Absichten beweisen. Dafür wurden acht bis zehn Arbeitskollegen befragt. „Wenn die Person wegen Havarie einen Hafen im westlichen Ausland anlaufen muss – würden sie sich für sie verbürgen? Da winkten die meisten ab“, so Kretschmer. Seine Kollegen aber standen voll hinter ihm. Die Fahrt bis bis Estland verlief ohne Zwischenfälle, auch wenn die Crew der „Alibaba“ fast nur nach den Methoden segeln musste, wie sie schon seit Jahrhunderten praktiziert werden: Mit Karte, Kompass und Sextanten. Außerdem hatte sich der Skipper noch einen Funkpeiler gebaut, mit dem er dank Sendern an Land seine Lage auf der Ostsee zumindest ungefähr bestimmen konnte.
Im Finnischen Meebusen segelten sie der Sowjetischen Kriegsmarine in die Arme. Ein Patroullien-Boot hatte den Funk abgehört und die „Alibaba“ offenbar bereits erwartet. „Plöztlich blickte ich in die Mündungen von mindestens zehn Kalaschnikows“, erinnert sich der Kapitän. Und da habe sich gezeigt, dass sich neben nautischen Fähigkeiten auch gute Russischkenntnisse bei der Seefahrt empfehlen. „Einer von uns konnte sehr gut Russisch, und nach Rückfrage in Talinn ließ man uns weitersegeln.“
In Leningrad wurden sie für den Schreck entschädigt: Für die Weiterfahrt bis hoch zum Ladogasee wurde Franz Kretschmer und seinen beiden Mitseglern ein Schlepper zur Verfügung gestellt, denn die Strömung der Newa sei zu stark für das kleine Segel oder den 7-PS-Außenbordmotor gewesen. Auf dem Rückweg segelte die Crew nach ausgiebiger Beratung unter sechs Augen nach Kopenhagen und ging dort für einen Tag an Land. „Wir hatten nie vor, aus der DDR zu fliehen, wollten uns nur mal die Stadt ansehen“, lacht Franz Kretschmer. Was damals schwere Konsequenzen hätte nach sich ziehen können, nimmt er heute unbeschwert. „Ich hatte ja zwei Bordbücher – ein offizielles und eines für mich.“
Es ist wie mit dem Segeln: Franz Kretschmer hat immer gewusst, was er sich und seinem Boot zutrauen kann. Kein Leichtsinn, sondern eine gute Portion Abenteuerlust, die er selbst als völlig normal empfindet: „Andere spielen Fußball – ich segele.“ Trotz manchmal meterhoher Wellen ist er nie in Seenot geraden, und bis auf einige verschlissene Motoren oder zerrissene Segel hat auch die „Alibaba“ bis heute tapfer durchgehalten. Er würde gern noch weiter segeln, bis nach Spitzbergen in den Arktischen Ozean, erzählt Franz Kretschmer, doch für die weite und kalte Strecke sei sein Boot dann doch zu klein. Im Sommer wird er erst einmal wieder auf der Ostsee segeln, die „kleinen“ Runden fahren. Und bis dahin wird er immer wieder Zuhörer finden, die sich von ihm auf seine vergangenen Reisen mitnehmen lassen.
Vortrag am Samstag, 28. Febraur, 16 Uhr im Gemeindezentrum Wilhelmshorst
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