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Potsdam-Mittelmark: Reise in die eigene Vergangenheit

Katharina Doyé besuchte Israel – eigentlich wollte sie nur das Land kennen lernen

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Nuthetal - Es ist der Tag der Abreise. Katharina Doyé steht auf dem Flughafen Ben Gurion in Tel Aviv und wartet. Dann wird sie von einem Soldaten rausgewunken. Noch nicht einmal 20 Jahre, nicht älter als einer ihrer Söhne, stellt er ihr, der 47-Jährigen in nuschelndem Englisch Fragen. Zu viele Fragen. Es ist der Moment, in dem Katharina Doyé beschließt: Ich will das nicht mehr. Das hat sie schon in der DDR erlebt. Zu oft. Der Soldat stellt weiter seine Fragen. Wo sie in Jerusalem gewohnt hatte, ob sie von der planmäßigen Route abgewichen sei, ob sie jemanden besucht hätte, der nicht auf ihrem Reiseplan vermerkt war. Katharina Doyé schweigt. Der Soldat schaut sie fragend an und Katharina Doyé sagt, sie verstehe kein Englisch. Der Soldat schaut sie weiter an, dann nickt er, lässt sie gehen und greift sich einen anderen aus ihrer Reisegruppe.

Zehn Tage zuvor, an einem Montagmorgen Ende März, steigt Katharina Doyé zusammen mit ihrem Mann in Hamburg in das Flugzeug, das sie nach Israel bringen wird. Sie wollte da einfach mal hin, sagt Katharina Doyé. Nach Israel, in das Heilige Land, wo sich Orient und Okzident auf einmalige Weise berühren, wo so viel Geschichte präsent ist, dass es einen schier zu erdrücken scheint. Katharina Doyé stammt aus einer Pfarrersfamilie, hat Theologie studiert, ihr Mann ist Pfarrer in Saarmund. Trotzdem soll ihre Reise nach Israel keine Pilgerreise werden. Sie will das Land kennen lernen und ein wenig helfen. Es wird für Katharina Doyé eine Reise, auf der sie Momente totaler Ohnmacht erlebt, an die Grenzen ihres Weltverständnisses stößt und wo die Gegenwart sie in einem tristen Flughafengebäude mit ihrer eigenen Vergangenheit überrollt.

Die evangelisch-lutherische Kirchengemeinde St. Georgsberg hat die Reise organisiert, die dem Erfahrungsaustausch dienen soll. „Wiedersehen mit Freunden – Neues entdecken“ steht auf dem Reiseplan. Es geht nach Palästina, nach Bethlehem, ans Tote Meer, es geht zum Ölberg und zum See Genezareth. Gespräche mit palästinensischen Christen sind geplant und zahlreiche Gottesdienste. Als Katharina Doyé ihren Koffer packt, lässt sie genug Platz für Medikamente. Blutdruckmittel, Verbandsmaterial, Tabletten. Jeder in der Reisegruppe macht das.

„Als wir in Abrahams Herberge in Beit Jala ankamen und die Medikamente zusammenlegten, füllten die zwei Tische.“ Katharina Doyé lächelt ein wenig ungläubig, als sie davon erzählt. Wir sitzen auf der Veranda ihres Hauses in Bergholz-Rehbrücke. Ende April hatten Katharina Doyé und ihr Mann auf einer Veranstaltung des Heimatvereins von ihrer Reise erzählt. Das hat neugierig gemacht, man wollte mehr wissen.

Katharina Doyé ist noch immer überrascht, was alles für das Kinderheim der Herberge aus den Koffern geholt wurde. Abrahams Herberge im 10 000-Einwohner-Städtchen Beit Jala, nur wenige Autominuten von Bethlehem entfernt, ist Gästehaus, kirchliches Zentrum, das sich der Versöhnung zwischen Israelis und Palästinensern verschrieben hat und Kinderheim zugleich. Seit Jahren unterstützt die Kirchengemeinde St. Georgsberg Abrahams Herberge wo sie kann.

Katharina Doyé sagt, dass dieses Kinderheim sehr schön sei. Doch über die große Armut, die große Not in dem palästinensischen Städtchen könne das nicht hinwegtäuschen. Darum die Medikamente, die letztendlich doch nur ein Tropfen auf den heißen Stein seien. Aber immerhin.

Einer der Mitreisenden hat Fußballtrikots für die Kinder mitgebracht. 70 leben in Abrahams Herberge. Katharina Doyé würde die Kinder gern in diesen Trikots über eine Wiese toben sehen. „Doch da ist nur eine Schule, der Schulhof und das wars“, sagt sie. Viel Asphalt, viel Staub und nach wenigen hundert Metern der Zaun.

Im offiziellen Sprachgebrauch wird der Zaun „Sperranlage“ genannt. Auf einer Länge von 759 Kilometern soll er das israelische Kernland vom Westjordanland trennen und so das Einsickern von palästinensischen Selbstmordattentätern verhindern. Knapp 700 Kilometer bestehen aus einem schwer gesicherter Metallzaun mit Stacheldraht, der Rest aus einer bis zu acht Meter hohen Stahlbetonmauer. Im Jahr 2003 begonnen, soll der Bau noch in diesem Jahr abgeschlossen werden.

Immer wieder sieht Katharina Doyé den Zaun. Auf den Fahrten durch das Städtchen Beit Jala und den Fahrten durch das Land. Er schneidet sich in das Leben der Menschen und irgendwann auch in ihr Herz. Katharina Doyé kennt den politischen Hintergrund. Sie denkt, sie ist vorbereitet und kann die Argumente beider Seiten abwägen. Doch als sie vor dem Ungetüm aus Stacheldraht steht, mit den Menschen spricht, die durch die „Sperranlage“ ihr Land oder die Arbeit verloren, spürt sie eine totale Ohnmacht. Zuerst versucht Katharina Doyé dieser Hilflosigkeit mit Zynismus zu begegnen. „Ach ja, die DDR lässt grüßen.“ Dann kapituliert sie.

„Ich habe gemerkt, dass ich mit meiner europäisch geprägten Weltsicht hier nicht weiterkomme.“ Katharina Doyé hält ein kleines schwarzes Notizbuch in den Händen, während sie das sagt. Immer wieder blättert sie darin. Es sind die Notizen ihrer Reise, die Seite um Seite füllen. Manchmal zitiert Katharina Doyé daraus. Oft liest sie nur für sich. Es wirkt so, als ob sie doch noch versucht, Erklärungen zu finden. Erklärungen für den Konflikt zwischen Israel und Palästina, die es ihr ermöglichen, Lösungen zu finden. Lösungen, diesen zwischenmenschlichen Wahnsinn zu beenden, und sei es nur in ihrem Kopf. „Es gibt eine große Sehnsucht nach Ruhe sowohl auf israelischer als auch auf palästinensischer Seite“, sagt sie.

Katharina Doyé spricht mit christlichen Palästinensern, sie spricht mit israelischen Studenten. Manchmal, wenn ihre Fragen drängender werden, erhält sie keine Antwort. Sie lernt schnell, dass man ihnen nicht alles sagt. „Dort herrschen andere Spielregeln.“ Zu viel ist neu, um es zu verstehen und einordnen zu können. Katharina Doyé versucht es trotzdem. Und während sie es versucht, wird sie von der eigenen Vergangenheit eingeholt.

Katharina Doyé ist in Jena geboren und in Eisenach aufgewachsen. Mitte der 70er Jahre beginnt sie eine Ausbildung in Erfurt. Fährt sie am Wochenende nach Hause, wird sie regelmäßig im Zug von der Polizei kontrolliert. Zu dicht liegt die Grenze zur Bundesrepublik, jeder Reisende könnte ein potenzieller Flüchtling sein. Katharina Doyé muss ihren Ausweis vorzeigen, Fragen beantworten und Schikanen erleben. „Manchmal gab ein junger Mann eine trotzige Antwort, dann war seine Reise erst einmal vorbei.“ Katharina Doyé macht das wütend. Doch sie erträgt es.

Anfang der 80er Jahre beginnt sie ihr Studium in Potsdam, ist aktiv im christlichen Freundeskreis, dann, ab 1987, in der kirchlichen Friedensbewegung. Sie ist Mitbegründerin von Bündnis 90 und Landesgeschäftsführerin für das Neue Forum im Land Brandenburg. Heute arbeitet Katharina Doyé als Studienleiterin an der Evangelischen Akademie in Wittenberg.

In Israel sieht Katharina Doyé Grenzposten, die Palästinenser überprüfen. Sie sieht Kontrollen und denkt an ihren Fahrten nach Eisenach. Sie sieht den Zaun, spürt das allgegenwärtige Misstrauen und denkt an die Mauer, die bis 1989 Deutschland teilte. Katharina Doyé weiß, dass sie nicht vergleichen kann. Doch Fakten und Argumente bringen nur Ordnung auf rationaler Ebene. Gegen die Erinnerung und die damit verbundenen Gefühle, die sie überrollen, kann sie sich nicht wehren. Dann steht sie am Tag ihrer Abreise vor dem israelischen Soldaten mit seinem nuschelnden Englisch und plötzlich kocht in ihr wieder diese Wut. Dieses Mal erträgt sie nicht.

Katharina Doyé ist nach Israel gefahren, um das Land besser kennen zu lernen. Sie ist mit zu vielen Fragen zurück gekehrt. Antworten darauf wird sie nur dort finden. „Ich werde wieder nach Israel reisen“, sagt Katharina Doyé. Vielleicht wird sie sich wieder ohnmächtig fühlen, vielleicht auch mit der eigenen Vergangenheit ringen. Sie wird es in Kauf nehmen. Denn Katharina Doyé will verstehen.

Dirk Becker

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