zum Hauptinhalt
Nikolai Kornhaß, einer der Routiniers des deutschen Teams im Para-Judo, interessiert es nicht, ob jemand „gut sieht oder bescheißt“.

© IMAGO/Ralf Kuckuck

Betrugsvorwürfe im Para-Judo: Blind gegen blind mit Führerschein

Blinde Para-Judokas aus der Ukraine, die Auto fahren? Auf mutmaßliche Beweise reagiert Bundestrainerin Carmen Bruckmann resigniert: „Ich klage das seit Jahren an.“

Von Monja Nagel

Stand:

Ein leicht zu manipulierendes Klassifizierungssystem und ein Ukrainer, der seine eigenen Teamkollegen öffentlich beschuldigt: In einem Beitrag der ARD aus der vergangenen Woche heißt es, an den Paralympics in Paris teilnehmende Para-Judokas seien gar nicht in dem Maße sehbeeinträchtigt, wie es bei den Klassifizierungen im Vorhinein festgestellt wurde.

Dem öffentlich-rechtlichen Sender wurden nach eigener Auskunft Videoaufnahmen zugespielt, die Athleten, die in die Startklasse der vollständig Blinden eingestuft wurden, beim Autofahren und Spielkarten sortieren zeigen. Der ukrainische Para-Judoka Yuri Marchenko kommt zu Wort und spricht davon, dass es „Gesunde gibt, die sich Klassifizierungen erschleichen“.

Vier von insgesamt sieben dieser Judokas, die Marchenko für Betrüger hält, stehen laut ARD-Bericht auf der Startliste der Paralympics. Ab diesem Donnerstag kämpfen sie in der Champ-de-Mars-Arena von Paris um Medaillen. Marchenko selbst wurde nach eigener Auskunft aufgrund seiner Vorwürfe für einen Start bei den Sommerspielen nicht berücksichtigt.

Derartige Vorwürfe kursieren schon länger – neu sind die vorliegenden Beweise. „Ich finde gut, dass es jetzt mal aufs Tablett kommt“, sagt die deutsche Bundestrainerin Carmen Bruckmann: „Ich klage das seit Jahren an.“ Doch der Zeitpunkt der Veröffentlichung hätte aus ihrer Sicht ein besserer sein können.

Deutschland ist weder im Doping weit vorne noch im Bescheißen bei der Klassifizierung.

Bundestrainerin Carmen Bruckmann

„So kurz vor dem Wettkampf ist das blöd, weil es den Fokus weg vom Sport auf die Sportpolitik lenkt“, sagt die 57-Jährige. Natürlich tangiere die Thematik ihre Sportlerinnen und Sportler immer mal wieder punktuell, aber die Aufmerksamkeit ihres Teams solle auf den Wettkämpfen liegen. „Wir haben immer die Devise: Wenn wir es nicht ändern können, müssen wir eben die mit Führerschein schlagen“, sagt Bruckmann.

Insbesondere einer ihrer Schützlinge habe diese Einstellung schon immer gehabt. Nikolai Kornhaß, einer der Routiniers des deutschen Teams im Para-Judo, interessiere es nicht, ob jemand „gut sieht oder bescheißt“. Der 31 Jahre alte Judoka ist schon zum dritten Mal bei Paralympischen Spielen dabei und für ihn sei es laut Bruckmann bloß eine „Aufgabe auf der sportlichen Ebene“. „Es nützt nichts, nützt gar nichts“, sagt die Bundestrainerin resigniert. „Mich persönlich macht es nicht mehr betroffen oder traurig. Wir haben das schließlich schon länger.“

Seit 1995 ist Carmen Bruckmann als Trainerin bei der deutschen Nationalmannschaft. Damals sei die Para-Judo-Szene noch sehr harmonisch gewesen. „Die Franzosen, die Briten, wir – da hat keiner betrogen“, sagt sie. „Das hat sich erst entwickelt, als immer mehr Nationen dazu kamen. Mich überrascht es nicht.“

Für das Klassifizierungssystem verantwortlich ist das Internationale Paralympische Komitee (IPC). Der Blindensport-Weltverband IBSA stellt die weltweit knapp 50 Klassifizierer, die die Para-Judokas beurteilen und einstufen. „Es ist die Aufgabe des IPC und des IBSA, durchzusetzen, dass diese Betrugsfälle nicht mehr vorkommen“, sagt Bruckmann. „Wir in Deutschland können nichts ändern, wir arbeiten sauber.“ Die Cheftrainerin vergleiche die Theamtik gerne mit Doping, auch das sei in der Bundesrepublik nicht möglich. „Deutschland ist weder im Doping weit vorne noch im Bescheißen bei der Klassifizierung“, sagt sie.

Von der ARD befragte Spezialisten halten das vorgeschriebene Verfahren, das in Teilen ähnlich dem eines Sehtestes beim Augenarzt sein soll, für leicht manipulierbar. Der subjektive Eindruck der Klassifizierer habe einen zu großen Einfluss auf das Ergebnis und Begleit-Dokumente wie medizinische Befunde, die die Athleten einreichen müssen, könnten ebenfalls verfälscht sein.

Allerdings gibt es eine Weiterentwicklung des Klassifizierungssystems. Bei den Paralympics in Paris treten die vollständig Erblindeten und die Sehbehinderten zum ersten Mal in zwei getrennten Startklassen gegeneinander an. „Das war eine ganz große Verschiebung im Team“, sagt Carmen Bruckmann. „Es wird sich auch weiter entwickeln, aber es braucht sehr viel Geduld von uns.“

Bis dahin tritt ihr Team gegen jeden Gegner an. Ob mit oder ohne Führerschein, ob mit oder ohne Sehkraft. „Du reibst dich nur auf. Wir bleiben beim Sport und entwickeln für jeden Gegner eine individuelle Taktik, wie wir ihn schlagen können“, verspricht Bruckmann.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })