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Peter Schmeichel vereitelte im EM-Finale mit einem herausragenden Reflex eine große Chance von Jürgen Klinsmann.

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Torhüter Peter Schmeichel über den dänischen Triumph 1992: „Das ganze Land hatte einen Kater“

Bei der EM 1992 sollen die Dänen Fast Food gegessen haben und beim Training in Badelatschen aufgetaucht sein. Schmeichel verrät, was an den Mythen dran ist.

Stand:

Es war die beste Parade seiner Karriere: Peter Schmeichel vereitelte im EM-Finale mit einem herausragenden Reflex eine große Chance von Jürgen Klinsmann. Im Interview blickt er zurück auf den sensationellen EM-Sieg.

Peter Schmeichel, Sie standen beim sensationellen EM-Triumph Dänemarks 1992 ebenso im Tor wie beim Champions-League-Finale 1999, als Manchester United den FC Bayern in den letzten zwei Minuten besiegte. Sind Sie ein Experte für Fußballwunder?
Wenn Sie es so formulieren, klingt es hervorragend. Ich muss Sie aber enttäuschen: Unser EM-Titel war kein Wunder.

Wie bitte? Ihr Team wurde kurz vor dem Turnierstart nachnominiert, startete quasi ohne Vorbereitung und holte den Titel.
Dennoch standen wir alle noch voll im Saft. Viele von uns hatten bis kurz vor dem Turnierstart noch in ihren Vereinsmannschaften gespielt. Außerdem hatten wir noch ein Freundschaftsspiel gegen die GUS, die sich damit auf das Turnier vorbereitete. Am 30. Mai, beim Mittagessen vor der zweiten Trainingseinheit, erfuhren wir dann, dass wir wohl bei der EM für Jugoslawien starten werden.

Viele Mitspieler hatten da schon ihren Urlaub gebucht.
Lars Olsen hatte mir nur Stunden vorher noch von seinem Ferienhaus auf Mallorca vorgeschwärmt. Und dann das. Man muss das eben so sehen: Unsere Saison war vorbei, alle hatten die Maschinen schon runtergefahren. Mental waren wir bereits im Urlaub. Das Freundschaftsspiel gegen die GUS bedeutete nur unserem Trainer Richard Møller Nielsen etwas.

Er stand unter Druck und nahm die Partie sehr ernst. In dieser seltsamen Situation erfuhren wir dann, dass wir bei einer Europameisterschaft antreten. Als uns die Nachricht erreichte, hat jedenfalls keiner lautstark gejubelt.

Die Mannschaft machte sich dennoch einen Spaß aus der Sache, trat locker auf, schlurfte in Badeschlappen über den Trainingsplatz.
Stopp! Niemand hat sich einen Spaß aus dem Turnier gemacht. Unsere Teilnahme hatte tragische Umstände. Wir durften antreten, weil in Jugoslawien vielen unschuldigen Menschen unglaubliches Unrecht widerfahren ist. Wir waren uns dieser Verantwortung jederzeit bewusst. Es klingt immer so, als wären wir eine Freizeitmannschaft gewesen. Das ist unfair, auch unserem Trainer gegenüber. Wir haben uns genauso professionell vorbereitet wie jedes andere Team auch.

Allerdings nur zehn Tage. War diese kurze Vorbereitung ein Nachteil gegenüber anderen Teams, die seit Monaten auf die Europameisterschaft hingearbeitet hatten?
Im Gegenteil, für uns war es sogar ein Vorteil. Bei der Vorbereitung auf eine Europameisterschaft durchläuft man normalerweise viele Phasen. Ständig kommen neue Spieler in den Kader, der interne Wettbewerb ist extrem. Dazu gibt es viele Werbetermine, der Druck von außen steigt stetig. Das kann innerhalb einer Mannschaft für Unruhe und Stress sorgen.

Das alles gab es bei uns nicht. Richard Møller Nielsen hatte 22 Spieler zum Länderspiel gegen die GUS eingeladen. Und diese Mannschaft fuhr dann auch zur EM.

Vor allem Schmeichels Parade gegen Jürgen Klinsmann war legendär.

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Im ersten Spiel ging es gegen England. Was sagte Ihr Trainer vor dem Spiel?
Er kam in die Kabine und sagte trocken: „Jungs, geht raus und blamiert euch nicht. Macht euch stolz. Das reicht mir.“

Das Spiel endete 0:0.
Und es war wohl dennoch unser wichtigstes Ergebnis im gesamten Turnier.

Warum?
Man stelle sich vor, wir wären mit 0:5 vom Platz gegangen. Das war durchaus möglich. Wir wären die Lachnummer des Turniers gewesen, und alle hätten gesagt: „Das war doch klar, die nehmen das nicht ernst.“ Aber nach dem Spiel waren wir sogar enttäuscht, dass wir nicht gewonnen hatten. Für mich war das ein positives Signal.

Weil die Mannschaft merkte, dass sie mit den Großen mithalten kann?
Es war ein Zeichen für das Selbstvertrauen, das in unserer Mannschaft herrschte. Jeder merkte, dass auch der andere etwas erreichen will. Niemand spielte für sich, sondern für den Erfolg der Mannschaft, für Dänemark. So ein Spirit ist während eines Turniers Gold wert und kann die Kleinen sehr groß werden lassen.

Im dritten Spiel traf Dänemark auf den Mitfavoriten Frankreich, siegte sensationell und stand plötzlich im Halbfinale. Gerade nach diesem Spiel hat der Big Mac doch sicher besonders gut geschmeckt.
Da ist sie wieder, die alte Geschichte vom Big-Mac-Team. Soll ich Ihnen was erzählen: Wir waren genau einmal Fast Food essen.

Sie haben gerade einen Mythos zerstört.
Vor dem Abschlusstraining für das Halbfinale gegen Holland fuhren wir in Göteborg mit dem Bus an einer McDonald’s-Filiale vorbei. Da haben wir ein bisschen gewitzelt: „Trainer, wir würden so gern ein paar Burger essen.“ Der Coach hat nichts gesagt, aber nach dem Training hielt der Bus tatsächlich vor der Filiale. Alles war extra für uns abgesperrt. Es war eine Überraschung des Trainers für die Mannschaft, mit der niemand gerechnet hatte.

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Aus ernährungsphysiologischer Sicht allerdings ein Super-GAU, einen Tag vor dem Halbfinale.
Spontan etwas außerhalb der Norm zu tun, ist sehr wichtig in diesen Phasen. So bewahrt man eine gewisse Lockerheit in der Mannschaft. Bei einem Turnier ist fast alles geregelt, überall sind feste Abläufe. Da kann solch eine Aktion die Mannschaft richtig entspannen. Außerdem hat der Trainer uns dadurch eine neue Facette von sich gezeigt. Er war durchaus verbissen und nicht frei von Kritik. Doch nach diesem Essen wollte jeder noch mehr für ihn tun.

Heute ist es unvorstellbar, dass ein Nationalteam vor einem EM-Halbfinale Fast Food isst.
Es müssen ja keine Burger sein, aber wenn man an diesem Punkt im Turnier angekommen ist, muss der Fokus auch mal etwas geweitet werden. Sonst verkrampft man.

Es hat gewirkt. Im Halbfinale besiegten Sie mit Holland einen weiteren Favoriten. Plötzlich stand der Underdog Dänemark im EM-Finale.
Und wieder hat uns Richard Møller Nielsen überrascht: Im Hotel durften wir ein paar Drinks an der Bar nehmen.

Also war „Danish Dynamite“ doch eine Partytruppe?
Wir hatten gerade Holland im Elfmeterschießen geschlagen, alle waren voller Adrenalin. Da mussten die Freude und der Druck einfach mal raus. Du kannst dich nicht in Ruhe auf ein Finale vorbereiten, wenn alle noch den sensationellen Halbfinalsieg verarbeiten müssen. Deswegen war die Party genau richtig, um einen Strich unter die Geschehnisse zu ziehen. Sie war nicht exzessiv, dazu waren wir alle viel zu fertig. Und am nächsten Tag ging die Vorbereitung auf das Finale los.

Nach dem Finalsieg sei er wie in einem Rausch gewesen, erzählt Schmeichel.

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In dem Dänemark mit dem letzten Aufgebot antreten musste. Die meisten Spieler waren verletzt.
Ich war im Grunde der letzte Verteidiger, den wir noch hatten. John Sivebæk hatte eine angerissene Achillessehne, eine Verletzung, mit der man normalerweise Monate pausieren muss. Henrik Andersen hatte sich gegen Holland die Kniescheibe gebrochen. Kent Nielsen fehlte schon verletzt im Halbfinale, und unser Kapitän Lars Olsen hatte eine geprellte Hüfte.

Er konnte sich nicht einmal mehr richtig drehen. Nach dem Abschlusstraining musste ich ihn im Hotel sogar die Eingangstreppe hochtragen. Unsere Defensive war also nicht mehr existent.

Warum stellte Møller Nielsen bis auf Andersen trotzdem alle auf?
Er hat Jahre später erklärt, warum er das tat. Natürlich hatte er gesehen, dass diese Spieler eigentlich nicht fähig waren zu spielen. Aber genauso war er der Meinung, dass sie sich dieses Finale verdient hatten. Er wollte nicht derjenige sein, der ihnen diese einmalige Möglichkeit raubt. Also hat er sie selbst entscheiden lassen. Und Lars, Kent und John liefen tatsächlich auf.

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Und hinderten Deutschlands Sturm um Klinsmann und Riedle sogar an einem Tor.
Ich wusste: Wenn Deutschland ein Tor macht, schießen sie uns ab. Das hätten wir nicht verkraftet. Wir hätten 0:6 verloren, davon bin ich überzeugt. Wir waren einfach fertig und haben alles über unseren Willen und unsere Motivation erreicht.

Legendär ist Ihre Parade gegen Jürgen Klinsmann beim Stand von 1:0. Für viele der Knackpunkt in diesem Finale.
Es war vielleicht die beste Parade meiner Karriere. Ich sah Stefan Effenberg auf mein Tor zulaufen. Er steckte den Ball auf Jürgen Klinsmann durch, und der schoss aus der Drehung. Ich tauchte in die Ecke und streckte mich mit allem, was ich hatte. Mein rechter Arm, meine Finger, alles stand kurz vor der Explosion. Dann spürte ich den Ball an meine Hand klatschen, ich blickte Richtung Tor.

Alles passierte in Zeitlupe. Der Ball ging am Pfosten vorbei, und ich sah mich um. In Klinsmanns Gesicht war blankes Entsetzen zu erkennen. Da wusste ich: Jetzt können wir tatsächlich auch dieses großartige Team schlagen.

Dänemark gewann 2:0 und wurde Europameister. Was genau passierte nach dem Schlusspfiff?
Ich weiß es nicht.

Sie können sich nicht erinnern?
Nein, ich kann mich nicht an die Pokalübergabe erinnern. Ich kann mich nicht an die Party danach erinnern. Ich war wie in einem Rausch – und doch völlig nüchtern. Alles war dunstig, wie in Watte gepackt. Erst bei den Feierlichkeiten in Kopenhagen war ich wieder bei mir.

Meine erste Fahrt in einem Cabriobus, ein brütend heißer Tag, hunderttausend Menschen. Ein Jahrhundertereignis für Dänemark. Als meine Frau und ich am nächsten Tag durch Kopenhagen spazieren gingen, war niemand mehr auf der Straße. Das ganze Land hatte einen Kater.

Benjamin Kuhlhoff

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