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Den Favoriten ganz nah: Mustapha El Ouartassy (mit Nasenpflaster und schwarzem Trikot) stellte sich beim Start in die erste Reihe.

© privat

Der Marzahner Marokkaner: Schnellster Berliner beim Marathon wird Mustapha El Ouartassy

Mit 2:14,02 Stunden läuft Mustapha El Ouartassy für Fortuna Marzahn in die deutsche Spitze. Deutscher muss er erst noch werden – sein ganz eigener Marathon.

Am Ende erging es ihm wie Kenenisa Bekele. Ab Kilometer 35 blies Mustapha El Ouartassy der Wind ins Gesicht. Seine Begleiter hatte er längst hinter sich gelassen. Jetzt war er ganz auf sich allein gestellt. Am KaDeWe vorbei und links Richtung Potsdamer Platz, den Berliner Regen im Gesicht. Noch ein paar Mal um die Ecke, dann hatte er das Brandenburger Tor vor Augen. Der Wind, der Regen: Zwei Sekunden fehlten Bekele schließlich zur Weltbestleistung. Und auch El Ouartassy verpasste sein Ziel, eine 2:13er-Zeit, nur um die Kleinigkeit von drei Sekunden.

Trotzdem ging für den 29-Jährigen ein Traum in Erfüllung: Mit 2:14,02 Stunden war der Marokkaner, der für Fortuna Marzahn startet, der schnellste Berliner beim Berlin-Marathon – und landete im Gesamtklassement auf Rang 26. Auch das war eine knappe Entscheidung. Denn der Österreicher Valentin Pfeil, der beim SC Charlottenburg trainiert, belegte nur 15 Sekunden hinter ihm Platz 28. „Den habe ich bei Kilometer 41 noch überholt“, erzählte El Ouartassy dem Tagesspiegel. Alle Deutschen lagen sowieso hinter ihm.

„Die Internationale Berliner Meisterschaft hat Mustapha gewonnen“, scherzte die Marzahner Vereinsvorsitzende Doris Nabrowsky im Ziel. In der deutschen Jahresbestenliste würde seine Leistung vom Sonntag, persönliche Bestleistung, für den zweiten Platz reichen.

Die Betonung liegt auf: würde. Denn El Ouartassy lebt in Berlin, war aber bisher nur geduldet. Bei seinem persönlichen Marathon in ein neues Leben steht ihm der Zieleinlauf noch bevor. 2016 kam El Ouartassy aus Marokko nach Deutschland, weil er Leistungssportler werden wollte.

Er stammt aus Agadir, einer touristischen Stadt an der Atlantikküste, die ihm keine Perspektive bot. Mit neun Jahren beendete er die Schule, arbeitete später auf Baustellen und fand mit 20 Jahren Freude am Laufen. Bei einem Volkslauf wurde er entdeckt und begann, regelmäßig zu trainieren. Zwar hatte er zwischenzeitlich sogar einen Manager, doch die Unterstützung, die er sich gewünscht hatte, bekam er nie.

Erst ein Schlag ins Gesicht, dann ein Sieg in Rekordzeit

Das änderte sich erst in Marzahn. Bei seinem jetzigen Verein sind Geflüchtete willkommen und zählen oft zu den Leistungsträgern. Doch Fortuna musste auch schon einige Talente ziehen lassen: Fünf Sportler wurden bereits abgeschoben oder in andere Städte geschickt, berichtet Nabrowsky. Auch El Ouartassy musste das befürchten. Sein Status war lange ungeklärt, er bekam Ärger mit dem Amtsgericht.

Ohne Aufenthaltserlaubnis besaß er keine Krankenversicherung, kein Konto, keine Arbeitserlaubnis. Etwas Geld verdiente El Ouartassy nur als Übungsleiter beim Flüchtlingssport, Freunde versorgten ihn mit dem, was er zum Leben brauchte. Auch Rassismus ist ihm nicht fremd: Beim abendlichen Bummel durch Wismar schlug ihm ein Mann ins Gesicht, beleidigte und bedrohte ihn. Tags darauf gewann er den Zehn-Kilometer-Lauf in Rekordzeit.

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Der Sport hat El Ouartassy durch die Zeit der Ungewissheit getragen. Vor einem Jahr ging er in Berlin für seine Vereinskollegin Mayada Al-Sayad, derzeit mit dem gemeinsamen Trainer Hans-Jürgen Stephan bei der Leichtathletik-WM in Katar, als Tempomacher an den Start; im Frühjahr lief er in Düsseldorf erstmals für sich selbst und kam in 2:15,28 Stunden ins Ziel. Der Lauf am Sonntag war daher erst sein zweiter echter Marathon unter Wettkampfbedingungen. Nabrowsky traut El Ouartassy noch einiges zu: Zwar sei er nicht mehr der Jüngste doch läuferisch „erst ein Anfänger“.

Beim Start neben Kenenisa Bekele in der ersten Reihe

Monatelang lag El Ouartassys Fall bei der Berliner Härtefallkommission. Vor zwei Wochen kam die erlösende Nachricht: Innen- und Sportsenator Andreas Geisel (SPD) stellte ihm ein Bleiberecht in Aussicht, Ende Oktober soll die Ausländerbehörde alles regeln. Zum Berlin-Marathon trat der Marzahner Marokkaner besonders selbstbewusst an: Beim Start am Sonntagmorgen stellte er sich dicht neben Favorit Bekele in die erste Reihe. „Den Mut muss man erst mal haben“, kommentierte Nabrowsky das forsche Auftreten ihres Schützlings.

Schon am Montag wollen sie den nächsten Schlussspurt angehen – und die Unterlagen für eine Einbürgerung zusammenstellen. In der neuen Woche beginnt ein neuer Sprachkurs, El Ouartassy strebt sogar das Abitur an. Vielleicht wird auch Marathon-Bundestrainerin Katrin Dörre-Heinig auf ihn aufmerksam, reicht es für die Sportförderung. El Ouartassys Wunsch: bis zum April nächsten Jahres ein Deutscher zu sein. Dann findet im Rahmen des Hannover-Marathons die deutsche Meisterschaft statt.

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